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«Russisch ist nicht Eigentum Russlands»

Sasha Filipenko, writer
Sasha Filipenko wurde 1984 in Minsk geboren. Sasha Filipenko

Sasha Filipenko besteht darauf, auf Russisch zu schreiben. Der belarussische Schriftsteller und Journalist lebt seit letztem Sommer im selbstgewählten Exil in Basel. Mit SWI swissinfo.ch spricht er über den Krieg, Proteste, "Cancel Culture" und seine Arbeit.

SWI swissinfo.ch: Sie sagen und schreiben immer wieder, dass Europa Belarus «im Stich gelassen» hat. Hat sich durch den Krieg in der Ukraine etwas daran geändert?

Sasha Filipenko: Das Land Belarus existiert nicht auf der europäischen Agenda. Als ich kürzlich eine Rede in Genf hielt, sagte ein Schweizer Journalist zu mir: «Mit welchem Recht sprechen Sie über Belarus, angesichts dessen, was in der Ukraine geschieht?»

Wir alle sind besorgt über die Geschehnisse in der Ukraine. Wir wollen, dass der Krieg unverzüglich beendet wird. Wir wollen, dass die Ukraine gewinnt. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass derzeit 9 Millionen Menschen in der Mitte Europas Geiseln [von Lukaschenkos Politik] sind. Im Jahr 2020, während der Proteste gegen die Regierung, wurden die Belaruss:innen von allen bewundert. Jetzt sind wir plötzlich zu Mitaggressoren geworden.

Ukrainische Politiker:innen erkennen Swiatlana Zichanouskaja [belarussische Oppositionskandidatin bei den manipulierten Präsidentschaftswahlen 2020, die jetzt im litauischen Exil lebt] nicht an, aber einige von ihnen anerkennen Lukaschenko, wenn es ihren Interessen dient, während sie gleichzeitig sagen, dass die Belaruss:innen mehr pro-ukrainisch sein sollten.

Sasha Filipenko wurde am 12. Juli 1984 in Minsk, Belarus, geboren. Er zog nach Russland und studierte in St. Petersburg, wo er als Drehbuchautor für mehrere Fernsehsendungen arbeitete.

Nachdem er im Jahr 2020 in der westlichen Presse mehrere kritische Artikel gegen das Lukaschenko-Regime veröffentlicht hatte, beschloss er, Russland aus Angst vor Verfolgung zu verlassen. Unter anderem wurde 2021 ein offener Brief an den Präsidenten des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, Peter Maurer, in mehreren renommierten Zeitungen Europas veröffentlicht, in dem Filipenko gegen die Weigerung der Organisation protestierte, belarussische Gefängnisse zu inspizieren. Nach Aussagen von Opfern und laut Daten internationaler NGOs werden dort weiterhin politische Gefangene gefoltert.

Er ist der Autor der Bücher Rote Kreuze, Die Jagd, Der ehemalige Sohn, Zamysly, Vozvrashhenie v Ostrog und Kremulator. Seine Bücher wurden in über 15 Sprachen übersetzt. Filipinos neuester Roman Kremulator wurde Ende Februar vom Schweizer Verlag Diogenes auf Deutsch veröffentlicht.

Oftmals befinden sich diejenigen, die russische oder belarussische Bürger:innen dazu auffordern, ihre Stimme zu erheben oder vor Ort zu protestieren, an einem sicheren Ort in Europa.

Sicher, aber ich frage mich, warum Europa nicht mit gutem Beispiel voran- und auf die Strasse geht und sich zum Beispiel gegen Handelsbeziehungen mit Russland ausspricht. Nur fünf europäische Länder – Finnland, Schweden und die baltischen Staaten – haben den Status quo beibehalten oder ihre Absatzvolumen in Russland reduziert. Selbst Polen, das sich so vehement gegen den Krieg wehrt, hat den Handel mit Russland erheblich ausgeweitet, ebenso wie die Schweiz und die Niederlande. Es scheint, dass einige Europäer:innen Halbheiten bevorzugen.

Die russische Gesellschaft ist heute extrem atomisiert. Jede:r lebt für sich allein. Die Menschen mögen das Regime nicht unterstützen, aber sie gehen aus verschiedenen Gründen nicht auf die Strasse, um gegen es zu protestieren. Für viele von ihnen ist der Krieg eine echte Katastrophe, aber für andere ist er weit weg, wie es beim Krieg in Afghanistan der Fall war. Auch da gab es keine wirklichen Proteste.

Sie betrachten diesen Krieg nicht als «ihren eigenen», weil sie sich nicht als Mitglieder dieser Gesellschaft sehen. Sie weigern sich, an Wahlen teilzunehmen; ihre Stimme bedeutet nichts. Für sie ist die Aggression gegen die Ukraine ein vom Kreml geführter Krieg.

Umfragen zeigen, dass die russische Bevölkerung diesen Krieg unterstützt, aber ich glaube nicht, dass wir glaubwürdige Zahlen haben, auf die wir uns verlassen können. Die Menschen sagen nicht, was sie wirklich denken, sondern was von ihnen erwartet wird.

Die Ausgaben für Propaganda sind in Russland angestiegen, und zwar verhältnismässig stärker als die Ausgaben für das Militär. Putin hat mehr Angst vor seinem eigenen Volk als vor der Ukraine. Und Propaganda wird noch lange Zeit benötigt werden. Im Moment gewinnt im «Kampf zwischen dem Fernsehen und dem Kühlschrank» [die Spannung zwischen einer durch Propaganda angeheizten patriotischen Euphorie und einer sich verschlechternden wirtschaftlichen Realität] das Fernsehen. Das könnte sich bald ändern. Dann wird man den Menschen erklären müssen, warum ihre Lebensqualität so niedrig ist.

Ist Lukaschenko ein vertrauenswürdiger Partner Russlands in diesem Krieg? Unterstützt er Putin wirklich oder hat er einfach keine andere Wahl?

Putin und Lukaschenko verachten sich gegenseitig. Lukaschenko liebäugelt noch immer mit der Ukraine und wird seine Meinung noch zehnmal ändern. Ob er die Grenze öffnen wird, um die Russen durchzulassen, ist fraglich. Lukaschenko wird bis zum letzten Moment versuchen, seine Armee rauszuhalten. Erstens, weil sie klein ist und schnell zerschlagen wird. Zweitens, weil er sein Regime verteidigen muss. An diesem Kurs wird er bis zum Schluss festhalten, sonst droht ihm eine echte Katastrophe.

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Lassen Sie uns über Ihre Arbeit sprechen. Sie haben sich einmal als «Stanley Kubrick der Literatur» bezeichnet, was haben Sie damit gemeint?

Nur, dass Kubrick Filme in verschiedenen Genres gemacht hat, und ich erlaube mir, in der Literatur zu experimentieren. Ich habe einen historischen Roman in Form einer antiken griechischen Tragödie geschrieben. Ich mag es, in der Literatur etwas Neues auszuprobieren.

Sie schreiben nur auf Russisch, nicht wahr?

Ja, obwohl ich in der Sekundarschule Belarussisch gelernt habe, träume ich nicht auf Belarussisch und mache keine Witze in dieser Sprache. Ich bin mir sicher: die russische Sprache ist nicht Russlands Eigentum. Deshalb sehe ich es als meine Aufgabe, immer wieder darauf hinzuweisen, dass Russisch auch unsere Sprache ist.

Russisch zu sprechen bedeutet nicht, die imperialen Ambitionen des russischen Präsidenten zu teilen. Auch wenn die Social-Media-Nutzer:innen schnell dabei sind, mir zu sagen, wie falsch ich liege.

Die Schweiz mit ihrer Sprachenvielfalt ist übrigens ein perfektes Beispiel dafür, dass ich Recht habe: Man spricht zwar Französisch, ist aber kein Franzose. Und man wird nicht zum Italiener, wenn man Italienisch spricht. Mit dem Russischen verhält es sich genauso.

Simonetta Somaruga und Sasha Filipenko
In guter Gesellschaft: Sasha Filipenko beim Treffen mit der damaligen Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga im Bundeshaus in Bern, 2020. Sasha Filipenko

Sogar in der Ukraine wird es noch gesprochen, obwohl niemand so viel wie Putin dafür getan hat, dass die Menschen dort aufhören, Russisch zu sprechen.

Haben Sie ein “Canceln», also eine Zensur, der russischen Kultur in Europa beobachtet?

Ich bin teilweise selbst davon betroffen. Im Jahr 2014 erhielt ich den Russischen Preis, eine sehr wichtige Auszeichnung für mein antidiktatorisches Buch “Der ehemalige Sohn». Eine europäische Website hat diese Tatsache aus meiner Biografie entfernt.

Der einzige russische Literaturpreis, der an Autor:innen verliehen wird, die ausserhalb Russlands leben und in russischer Sprache schreiben.

Er wurde im Jahr 2005 ins Leben gerufen. Sein Ziel ist es, die russische Sprache als einzigartiges Phänomen der Weltkultur zu bewahren und weiterzuentwickeln und russischsprachige Schriftsteller:innen in der Welt zu unterstützen.

Manche Leute glauben, dass es hilft, die russische Kultur zu canceln; ich gehöre nicht zu ihnen. Ich glaube, wir müssen aufhören, mit denen zu kooperieren, die den Krieg offen unterstützen. Alternativ könnten wir diese Künstler:innen sogar auftreten lassen, aber das Publikum vorher darüber informieren, dass dieser Dirigent oder dieser Sänger die russische Aggression gegen die Ukraine voll und ganz unterstützt.

Ich bin dagegen, alle Russ:innen, die gesamte Kultur, zu canceln, zumindest weil das gegen die Unschuldsvermutung verstossen würde. Ausserdem wird der Krieg früher oder später enden, während die grundlegenden Fehler, die wir gemacht haben – und wir werden sie machen –, bestehen blieben.

Viele Belaruss:innen verstehen das. Im Jahr 2020 liebte und bewunderte uns ganz Europa, und im Jahr 2022 weigerten sich die Banken in Europa, Bankkonten für uns zu eröffnen. Die Leute begannen, uns als Mitaggressor:innen zu bezeichnen. Mit anderen Worten – wir wurden gecancelt. Sie können sagen: «Nein, ich bin kein Mitaggressor. Ich habe an Protesten teilgenommen, während ihr weiterhin Handel mit Russland betrieben habt», aber das interessiert niemanden mehr.

Sasha Filipenkos neustes Buch
S. Filipenkos Buch Kremulator ist Ende Februar 2023 auf Deutsch erschienen. Sasha Filipenko

Und wie sollte der Westen, insbesondere die Schweiz, mit dieser Situation umgehen?

Auch der Westen ist heterogen. Aber es gibt einen Trend, den ich fast überall in Europa beobachte. Das kann man mit einer Geschichte illustrieren, die mir 2021 in Stuttgart passiert ist.

Ich hatte gerade eine Knieoperation hinter mir und lief mit Krücken herum. Ich stieg aus meinem Auto aus und holte meine Taschen heraus. Das dauerte lange und war sehr mühsam. Plötzlich sah ich einen Nachbarn, der die Treppe herunterkam und auf mich zuging. «Oh, endlich, Hilfe kommt», dachte ich.

Er kam auf mich zu, sagte: «Zerkratzen Sie nicht mein Auto!» und ging weg. Es war ein hässliches altes Auto. So ist es auch bei den Europäer:innen – einige von ihnen haben grosse Angst vor Kratzern und handeln nach dieser Logik.

Übertragung aus dem Englischen: Michael Heger

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