«Satire wie Charlie Hebdo muss an die Grenzen gehen»
Der blutige Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo in Paris, bei dem vier Karikaturisten und acht weitere Personen getötet wurden, hat weltweit Bestürzung ausgelöst, ganz besonders auch im Kreis von Satire-Produzenten. Für Karikaturen dürfe es keine Tabus geben, auch heikle Themen seien zulässig, sagt Anette Gehrig, Leiterin des Cartoonmuseums Basel.
Das Museum ist eines von wenigen in Europa, das sich der satirischen Kunst widmet. Dessen Leiterin Anette Gehrig setzt sich täglich mit Satire auseinander, die bei einigen Menschen Lacher und bei anderen Empörung oder Wut erzeugt.
swissinfo.ch: Welche Gedanken hat der blutige Anschlag bei Ihnen ausgelöst?
Anette Gehrig: Ich bin schockiert und emotional sehr betroffen, weil ich nicht nur das Satiremagazin kenne, sondern auch den Karikaturisten Cabu und Wolinski [sie gehören zu den Opfern des Anschlags; N.d.R.] persönlich begegnet war.
swissinfo.ch: Charlie Hebdo ist bekannt für seine provokativen Karikaturen, die auch den extremen Islamismus auf die Schippe nehmen. Haben Sie im Cartoon Museum Basel auch schon solche Karikaturen ausgestellt?
A.G.: Das Museum widmet sich diesen kritischen Themen. Es gab bei uns Ausstellungen, wie jene des deutschen Comic-Zeichners Ralf König, der sich mit dem Karikaturenstreit auseinandergesetzt hatte.
swissinfo.ch: Einige Muslime fühlen sich durch die Karikaturen in ihren religiösen Gefühlen verletzt. Haben Sie dafür Verständnis?
A.G.: Man muss sich grundsätzlich fragen, wo Karikaturen veröffentlicht werden. Von einem Satiremagazin erwartet man Satire. Charlie Hebdo ist in der französischen Kultur sehr stark verankert. Das Magazin hat eine Geschichte hinter sich. Das Publikum erwartet dort auch diese Themen. Es ist ein ganz anderes Gefäss als ein Museum.
swissinfo.ch: Was ist der Unterschied?
A.G.: Satire ist bei uns auch Programm. Aber von einem Museum erwartet man auch den Kontext, eine Aufarbeitung. Wenn bei gewissen Themen, wie zum Beispiel der Religion, das politische Klima schon erhitzt ist, dann ist es natürlich sehr heikel, diese auch in Ausstellungen aufzugreifen. Als Kuratorin habe ich den Anspruch diese Themen so zu präsentieren, dass sie auch mit Hintergrund-Material angegangen werden.
swissinfo.ch: Sind Sie der Meinung, dass es auch für Satire Grenzen gibt, die nicht überschritten werden dürfen?
A.G.: In einem satirischen Produkt wie Charlie Hebdo sollte es diese Grenzen nicht geben, aber im musealen Kontext schon. Das Museum hat einen ganz anderen Anspruch. Hier werden andere Zugänge geschaffen, die Themen aufgearbeitet und in einen grösseren Zusammenhang gestellt, um sie verdaubar zu machen.
swissinfo.ch: Wenn Sie auf die Befindlichkeiten eines gewissen Publikums Rücksicht nehmen, riskieren Sie damit nicht, sich selbst zu zensurieren oder zumindest die Meinungsäusserungs-Freiheit zu beschneiden?
A.G.: Nein, das will ich damit nicht sagen. Die Meinungsäusserungs-Freiheit muss unbedingt gewahrt bleiben. Aber in einem Museum kann eine Umgebung geschaffen werden, so dass Menschen, die heikle Themen emotional nicht vertragen, einen besseren Zugang dazu bekommen.
swissinfo.ch: Würden Sie islamkritische Karikaturen von Charlie Hebdo in Ihrem Museum zeigen oder nicht?
A.G.: Bei uns würden sie eingebettet und aufgearbeitet werden. Einfach nur aufhängen, kommt bei uns nicht in Frage.
swissinfo.ch: Muss eine Karikatur nicht grundsätzlich ein bisschen respektlos sein und aufrütteln?
A.G.: Es gibt einen Unterschied zwischen Aufrütteln und Respekt. Ein Karikaturist versetzt sich in eine Situation, aber auch in die Befindlichkeit der Menschen. Er kommt diesen Personen sehr nahe. Aber er will, dass seine Karikatur etwas bewirkt. Das ist die hohe Kunst des Karikaturisten, diese Gratwanderung zu bestreiten.
swissinfo.ch: Werden Sie nach dem Anschlag in Paris vorsichtiger sein, bei der Wahl ihrer Karikaturen, oder erst recht an die Grenzen gehen?
A.G.: Jetzt ist etwas Unvorstellbares eingetreten, das wir zuerst bewältigen müssen. Das wird eine grundsätzliche Auseinandersetzung brauchen. Aber als Museum bewegen wir uns immer im Grenzbereich. Wir müssen uns fragen, welche Themen für die Gesellschaft wichtig sind, und das werden wir auch weiterhin tun.
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