Scherenschnitte im 21. Jahrhundert – neue Dimensionen
Gedanken an Schweizer Scherenschnitte dürften oft traditionelle Bilder wie Szenen von Kühen beim Alpaufzug auftauchen lassen, nicht aber Bilder von Leuten in einer Disco oder gar solche der erwähnten Kühe, die jedoch von einem Helikopter hängend in Sicherheit gebracht werden.
Scherenschnitte waren in der Schweiz in verschiedenen Formen seit dem 17. Jahrhundert zu finden – den Anfang machten Andachtsbilder, später kamen Silhouetten-Porträts dazu, die vor allem in den Städten populär waren. Als Vater des traditionellen Scherenschnitts in der Schweiz gilt Johann Jakob Hauswirth (1809-1871), vor allem für das Motiv des Alpaufzugs bekannt.
Der einfache Taglöhner und Wanderarbeiter aus dem Berner Oberland schuf alpine Szenen von aussergewöhnlicher Schönheit. Wenn er Zeit fand, holte er in den Abendstunden Papier und Schere hervor und machte Scherenschnitte, die er Bauernfamilien als Dank für Mahlzeiten schenkte.
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Die faszinierende Welt aus Papier
Blättert man vorwärts ins 21. Jahrhundert, gibt es – nach einem Einbruch der Popularität dieses Kunsthandwerks in den letzten Jahrzehnten – heute in der Schweiz etwa 200 bis 300 aktive Papierschneider und Papierschneiderinnen, von denen etwa 100 regelmässig ihre Werke ausstellen. Alpine Themen sind nach wie vor populär, aber viele der Scherenschnitt-Kunstschaffenden versuchen, den herkömmlichen Rahmen der Scherenschnitt-Tradition zu sprengen.
Zu diesen gehört der 65 Jahre alte Ernst OppligerExterner Link, der als einer der führenden Papierschneider der Schweiz der Gegenwart gilt. Er schuf «Torso», eines der Hauptwerke, die in der Scherenschnitt-Ausstellung im Schweizerischen NationalmuseumExterner Link in Zürich zu sehen sind, für die sich zeitgenössische Papierschneiderinnen und Papierschneider von traditionellen Themen inspirieren liessen.
«Um ein Papierschneider zu werden, die meistens aus dem Berner Oberland kamen, ging ich auf eine Alp und arbeitete dort», erklärt Oppliger gegenüber swissinfo.ch.
«Vierzig Jahre später besuchte ich diese Alp wieder und machte eine seltsame Fotografie von schmelzendem Schnee, der ein Zickzack-Muster hinterlassen hat. Dieses Bild wurde zur Grundlage für meine Hommage an Hauswirth. Ich verglich auch meinen heute alten, kranken mit meinem damals jungen Körper, der fit war von der Arbeit auf der Alp.»
Oppliger umreisst seinen Stil als «anders», die Entwicklung seiner Arbeit in eine zeitgenössische Richtung sei langsam erfolgt.
Individualität
Fasziniert schaut ihm eine kleine Schar von Leuten zu, als er im Museum eine Vorführung gibt. Gewandt macht er kleine Schnitte in ein viermal gefaltetes Stück Seidenpapier. Wie viele der zeitgenössischen Papierschneider nutzt Oppliger neben der Schere auch Cutter. Heute ist das Thema seines Werks ein Ammonit.
«Ich zeige Dinge, die Fossile sind, oder Dinge, von denen ich möchte, dass sie Fossile wären», sagt er. Diese Aussage erklärt das Bild eines Offroad-Fahrzeugs in seinem Werk.
Bei den zeitgenössischen Scherenschnitten gehe es darum, dem Werk seinen eigenen Stempel aufzudrücken, sagt Felicitas Oehler. Sie ist die Präsidentin des Schweizerischen Vereins Freunde des ScherenschnittsExterner Link, der etwa 500 Mitglieder hat, darunter Museen und Sammler.
«Das ist sehr wichtig, vor allem weil die Subjekte bei den Alpaufzügen der Kühe immer dieselben sind… Deshalb sieht man heute manchmal einen Helikopter, der eine kranke Kuh transportiert, oder Traktoren. Jede Person hat ihre eigene Art, Kühe oder Bäume zu schneiden. Experten können sagen, von wem ein bestimmtes Bild kommt», erklärt sie.
Manchmal zeigen die Werke in der Ausstellung in Zürich auch eine humorvolle Seite. Ebenfalls von Hauswirth inspiriert ist zum Beispiel der Scherenschnitt mit dem Disco-Motto: Neben Leuten beim Tanzen finden sich verschiedene Szenen, die betrunkenes Verhalten aufzeigen. Die Kühe würden zum Alpaufzug geschmückt, um von der Öffentlichkeit bewundert zu werden, der Künstler habe nach einem Pendant beim Menschen gesucht, heisst es in der Ausstellung.
Und in den USA …
Der Rahmen der Arbeiten von Catherine Winkler RayroudExterner Link, einer Schweizer Papierschneiderin, die in Texas in den USA lebt, ist traditionell schweizerisch, die ausgebildete Keramikerin kommt aus Château d’Oex, einer weiteren Wiege des Schweizer Scherenschnitts. Doch bei einem Blick von nahe sieht man den amerikanischen Einfluss: Pferde statt Kühe, Bohrtürme statt Chalets.
Ihre Werke, die sich mit modernen Themen befassen, sind besonders beliebt und haben schon viele Preise und Auszeichnungen gewonnen. Ein Beispiel sei der Scherenschnitt in Form eines Büstenhalters, der den Kampf von Frauen zeigt, hin- und her gerissen zwischen ihren Wünschen und ihrer Rolle als Betreuungsperson, wie sie in einem Telefongespräch aus Houston erklärt. Solche Scherenschnitte hat sie jüngst in einem Buch zusammengetragen, das nach ihren Worten veranschaulicht, was es bedeutet, Frau zu sein. Das Buch wird diesen Sommer veröffentlicht.
«Ich schneide Papier, um Gefühlen und geballten Emotionen Ausdruck zu geben. Die meisten meiner Scherenschnitte haben eine Bedeutung oder eine versteckte Botschaft», sagt Winkler, über deren Werke unter anderem auch das «New York Times Magazine» berichtet hat.
Winkler, die immer noch kleine Nagelscheren verwendet, die sie in der Migros kauft, wenn sie die Schweiz besucht, sagt, es gebe in den USA eine aktive Scherenschnitt-Szene. Diese umfasse auch andere Papierschnitt-Traditionen wie die asiatische (wo das Kunsthandwerk seinen Ursprung hatte), die jüdische, die polnische und natürlich auch die mexikanische Kunst des Papel Picado (bei deren Herstellung oft Hammer und Meissel verwendet werden).
Kunst?
Es gebe aber einen grossen Unterschied zwischen der Schweiz und den USA, sagt Winkler. «Hier gilt das Papierschneiden als zeitgenössische Kunst, was man in der Schweiz kaum hören wird.»
Oehler sagt, es sei schwierig, Scherenschnitt heute zu klassifizieren, Hauswirth habe aber ohne Zweifel Volkskunst produziert. «Es sind fantastische Bilder, aber nicht wie die von heute. Hauswirth schuf seine Werke aus seinem Herzen heraus, nicht aus dem Kopf. Heute ist alles perfekter, und, von einem wissenschaftlichen Standpunkt her betrachtet, keine Volkskunst», erklärt Oehler.
Die Öffentlichkeit und gewisse Papierschneiderinnen und -schneider würden es immer noch als Kunsthandwerk betrachten, während es andere als zeitgenössische Kunst sähen, sagt Oehler. So meint zum Beispiel Oppliger, alle sollten frei sein, ihre eigene Kunst zu definieren.
Eines ist klar: Scherenschnitte sind Sammlerobjekte, und einige der grössten Sammler sind Ausländerinnen und Ausländer, die in der Schweiz leben. Viele der grösseren Werke kosten etwa 1000 Franken. Ein Hauswirth-Original kann bei einer Auktion aber Preise um die 60’000 Franken erzielen.
Aus Liebe zur Sache
Oppligers «Torso» ist mit 9300 Franken das teuerste Werk in der Ausstellung. Er ist einer der seltenen Fälle und kann sich seinen Lebensunterhalt mit Scherenschnitten verdienen, auch indem er ab und zu gewerbliche Aufträge ausführt. Doch viele Papierschneider – eine grosse Zahl darunter sind Frauen – haben Teilzeitstellen.
Zu diesen gehört Pia OdermattExterner Link, die vor 15 Jahren begonnen hat, Scherenschnitte zu machen und damit relativ neu ist in der Szene. Die Primarlehrerin in Ausbildung ist stolz, mit der Arbeit «Gämse» zum ersten Mal ein Werk in einer bedeutenden Ausstellung zeigen zu können. Das Werk wurde bereits verkauft.
«Die Ausstellung ist gut für das Geschäft, insgesamt jedoch zu wenig, um davon leben zu können, und ich müsste zu viel Zeit investieren. Es ist eine unsichere Einnahmequelle», erklärt sie.
Odermatt wendet pro Werk bis zu 100 Stunden auf, Oppliger einen Monat. Dies könnte in einer Gesellschaft, in der die Zeit stets drängt, einen Teil der Anziehungskraft von Scherenschnitten erklären, so Oppliger.
Zur Geschichte
Der Scherenschnitt hatte seinen Ursprung in Asien und breitete sich im 17. Jahrhundert in Zentraleuropa aus. Von Nonnen hergestellte Andachtsbilder und heraldische Scherenschnitte gehörten zu den ersten Scherenschnitten in der Schweiz.
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kamen Silhouetten-Porträts in den Städten in Mode, als billigere Variante zu Öl-Miniaturen. Solche Bilder waren populär unter Persönlichkeiten wie Johann Wolfgang von Goethe, Jean Huber und Johann Caspar Lavater.
Später wurde der Kontext breiter, die Schnittbilder zeigten Szenen oder gar ganze Geschichten, mit verschiedenen Formen und Gestalten. Zudem verbreiteten sich Scherenschnitte mit der Zeit auch auf dem Lande aus. Zu den am besten bekannten Vertretern der ländlichen Papierschneider gehören Johann Jakob Hauswirth und Louis Saugy.
Oehler, die Präsidentin des Schweizer Scherenschnitt-Vereins, erklärt, die Qualität der Schweizer Scherenschnitte sei sehr gut: «Ich weiss nicht, weshalb dies so ist, vielleicht schlicht weil wir in der Schweiz ernsthaft sind.»
Scherenschnitt-Vereine gibt es auch in Deutschland, den Niederlanden und den USA.
(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)
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