Schön schreiben als Relikt einer Gesellschaftskultur
Von einer "Verwahrlosung der Schrift" spricht der Schweizer Volkskundler Paul Hugger im Buch "Schön schreiben!". Er publiziert darin "Relikte einer vergangenen Gesellschaftskultur", die durch den "Respekt des geschriebenen Wortes gekennzeichnet war".
Wann haben Sie das letzte Mal von Hand einen Brief geschrieben? Wann einen handschriftlichen Tagebucheintrag gemacht?
In der heutigen Zeit greift man immer weniger zum Kugelschreiber oder zum Füller. Und wenn, dann oft nur, um einen Vertrag zu unterschreiben, auf einem Amt ein Formular auszufüllen oder um auf dem Einkaufszettel zu notieren, was im Kühlschrank fehlt. Ansonsten tippt man SMS und Mails, chattet und macht Facebook-Einträge.
Die eigene Handschrift, einst ein typisches Identitätsmerkmal, erkennt man zuweilen kaum selbst nicht mehr.
«Zerfall einer Kultur»
Im Buch «Schön Schreiben! Blüte und Zerfall einer Kultur» versammelt Paul Hugger kalligraphische Kunstwerke aus den letzten zwei Jahrhunderten, wie man sie höchstens noch in der Schreibtischschublade der Grosseltern, im Museum oder auf dem Flohmarkt findet: Taufzettel, Urkunden, Tagebucheinträge, Poesiealben, Schreibehefte.
«Heute spricht man vor allem von der chinesischen Kalligrafie und vergisst dabei, dass einst auch Europa über eine hochwertige Schreibkunst verfügte», sagt Hugger gegenüber swissinfo.ch.
Schönschreiben als Ausdruck des persönlichen Könnens und als Mittel der eigenen Identitätsstiftung hatte früher einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert. Dabei habe die richtige Haltung beim Schreiben als Ausdruck für eine korrekte Lebenshaltung gegolten, so Hugger.
«Das Schönschreiben war eine Verbindungsstruktur, die alle Schichten umfasste. Alle konnten partizipieren», sagt Hugger. Mit wenig Mitteln habe man Kunstwerke schaffen können.
Hugger bedauert denn auch die Vernachlässigung der Hand als primäres und naturgegebenes Werkzeug, die sie abhängig von der Technik macht.
Rechenheft zerrissen
Seine Passion für das Schönschreiben begründet Hugger in seinem Buch namentlich mit einem Schlüsselerlebnis als 13-jähriger Schüler: In der Katholischen Kantonsrealschule in St. Gallen zerriss der Mathematiklehrer während des Unterrichts sein Rechenheft und wies ihn an, eine neue Fassung zu erstellen.
Er sei wütend gewesen, doch als er sich abmühte, das neue Heft gleichmässig mit Schrift- und Zahlenreihen zu füllen, habe er langsam Spass an den Fortschritten bekommen und realisiert, dass der ganze Schreibprozess eine bessere Selbstkontrolle mit sich gebracht habe, erinnert sich Hugger.
Die «Sauen» zuhinterst im Umzug
Der Schreibunterricht konnte für Nicht-Schönschreiber zum Alptraum werden. Ein Beispiel dafür sind etwa die Probschriften für das Osterexamen: Sie bildeten im Kanton Appenzell Ausserrhoden anfangs des 18. Jahrhunderts bis fast Mitte des 19. Jahrhunderts den Gradmesser für die Schulbildung.
Pädagogisch äusserst fragwürdig waren die Umzüge, die am Ostermontag in den meisten Gemeinden stattfanden. Dabei zogen die Kinder von den Schulhäusern zur Kirche, an der Spitze jene mit den schönsten Probschriften, zuhinterst die «Sauen», das heisst jene, die beim Schreiben am schlechtesten abschnitten.
Manche Lehrer richteten den Unterricht zu dieser Zeit fast vollends auf die Schreibübungen aus und vernachlässigten andere Stoffe. Denn der Marktwert der Lehrer hing damals vom Schreiberfolg der Schüler ab.
Grosse Debatte um Hulliger-Schrift
Anfangs des 20. Jahrhunderts gab es in der Schweiz Versuche, die komplizierten Schriften zu vereinfachen und zu vereinheitlichen.
So kreierte etwa der Sekundar- und Schreiblehrer Paul Hulliger (1887-1969) in den 1920er-Jahren eine Handschrift, die in 12 Kantonen eingeführt wurde.
Die Hulliger-Schrift löste in der Schweiz eine grosse Debatte aus. Vor allem die Wirtschaft leistete Widerstand gegen die Einführung dieser Schrift.
Die Reformen einer Schweizer Schulschrift seien trotz jahrelanger Bemühungen «von einer befriedigenden Lösung noch immer weit entfernt», schrieb etwa die Vereinigung des Schweizerischen Import- und Grosshandels und sprach von «Schriftchaos».
Einzelne Firmen gingen gar so weit, Leute mit Hulliger-Schrift nicht mehr einzustellen. Die Schrift sei keine Erwachsenenschrift, sie mache einen kindlichen Eindruck, selbst wenn sie sauber geschrieben sei.
«Schnürlischrift» oder «Basisschrift»?
Die Kalligrafie als Schulfach wurde in den 1970er-Jahren abgeschafft. Doch die Schrift bleibt bis heute ein Thema.
So wird in der Schweiz im Moment über eine zeitgemässe Schulschrift diskutiert: Dabei geht es insbesondere um den Ersatz der 1947 an den Schulen eingeführten verschnörkelten und aufwendig zu erlernenden «Schnürlischrift» mit der entschlackten «Basisschrift», die etwa im Kanton Luzern seit 2006 als Alternative zugelassen ist.
Die Schrift obliegt den kantonalen Lehrplänen. Welche Schrift oder Schriften in Zukunft an den Schweizer Schulen gelehrt werden, ist noch offen. Eine einheitliche Schrift für die gesamte Schweiz könnte der Lehrplan 21 bringen, der ab Herbst 2010 erarbeitet wird.
Auch in Deutschland kennt man keine einheitliche Schulschrift, es gibt drei etablierte Handschriften-Systeme sowie verschiedene Druckschriften. In den 16 Bundesländern bestehen 13 verschiedene Lehrpläne. Vielerorts wird es den Schulkollegien oder den Lehrern selbst überlassen, welche Schrift sie ihren Schülern beibringen wollen.
Die Wurzeln der Kalligrafie reichen in Europa ins Frühmittelalter zurück.
Im 7. Jahrhundert brachten irische Mönche auf ihren Missionsreisen die Kunst auf das Festland.
Die karolingische Epoche, geprägt durch die kunstfördernden Massnahmen Karls des Grossen, brachte eine erste Hochblüte der Buchmalerei.
Die Schreibmeister-Bücher in der Schweiz im 16. Jahrhundert sind vor allem von Nürnberger und italienischen Vorbildern beeinflusst. Im 18. Jahrhundert kamen französische und teilweise auch spanische Einflüsse dazu.
Im 16. Jahrhundert begann sich die Didaktik des Schreibens an das Volk zu wenden. Entscheidend für diesen Prozess war die Reformation.
Die eigentliche Demokratisierung der Schrift erfolgt jedoch im 19. Jahrhundert mit der Einführung des obligatorischen Schulunterrichts.
Als Breitenphänomen erlebte die Schreibkultur im 19. Und frühen 20. Jahrhundert ihren Höhepunkt, wobei der Volksschule mit der Entsakralisierung und Laisierung des Schreibens eine Pionierrolle zukam.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch