Die dunklen Seiten des «wilden Schweizers»
Der Maler der Nacht, Johann Heinrich Füssli, steht im Zentrum einer grossen Ausstellung in Paris. Seine Beziehung zu seinem Heimatland Schweiz war kompliziert.
Johann Heinrich Füssli (1741-1825) wäre wahrscheinlich überrascht gewesen, seine Werke auf den Bussen im heutigen Paris zu sehen. Und seine Gemälde und Zeichnungen an den Wänden des Museums Jacquemart-André, einem Tempel des 19. Jahrhunderts. Er misstraute Frankreich und seinem Klassizismus und fühlte sich in seinem Jahrhundert der Aufklärung nicht sehr wohl.
In der sehr überladenen Einrichtung des Museums, in der man immer Angst hat, die Besitzer:innen zu stören, muss man riesige «italienische» Salons durchqueren und in den ersten Stock hinaufsteigen, um in den Genuss von Füsslis seltsamer, übernatürlicher und oft auch brutaler Welt zu kommen.
Das Museum am Boulevard Haussmann bezeichnet Füssli als einen «britischen Maler mit Schweizer Wurzeln». Und auf den vielen erklärenden Tafeln gibt es nur wenige Zeilen über seine Zürcher Jugend.
Viel besser ist ein Gemälde des Meisters, das die ersten zwanzig Jahre Füsslis auf den Punkt bringt. Es zeigt den jungen Mann, wie er mit seinem Philosophieprofessor Johann Jakob Bodmer vor der Büste Homers plaudert. Der elegante und selbstbewusste Füssli schaut weder Homer noch den grossen Zürcher Literaten an, sondern sucht gedankenversunken den Horizont ab.
Kritik am korrupten Magistraten
Heute würde man wohl sagen, dass Füssli ein «Whistleblower» war. Er wird zwar in ein Künstlermilieu hineingeboren, doch sein Vater zwingt ihn, Pfarrer zu werden. Füssli schreibt sich am Collegium Carolinum in Zürich ein und verkehrt dort mit grossen Geistern, die ihm mehr über antike Philosophie und Literatur erzählen, als es sein Vater gewollt hätte: Bodmer, aber auch sein Kommilitone Johann Kaspar Lavater, der später ein berühmter Dichter und Theologe werden sollte.
Gestärkt durch die antiken Werte greifen Füssli und Lavater die Auswüchse der herrschenden Bourgeoisie an. Sie verfassen ein Pamphlet gegen Felix Grebel, den korrupten Landvogt von Grüningen. Die Geschichte gibt ihnen zwar Recht, doch die jungen Revolutionäre greifen etwas zu hoch, denn Grebel ist nicht irgendwer: Sein Schwiegervater ist Bürgermeister von Zürich. Bodmer rät den beiden «Whistleblowern», sich heimlich nach Deutschland abzusetzen.
«Bodmers Einfluss auf Füssli ist entscheidend», sagt Andreas Beyer, Professor für Kunstgeschichte an der Universität Basel und Co-Kurator der Ausstellung. «Er führte ihn in die Lektüre von Homer, Shakespeare und sogar in die Nibelungen ein. Es sind Themen, die später in den Werken Füsslis auftauchen.»
Füssli beginnt eine Karriere als Weltenbummler. Er ist furchtlos, lässt sich zu Frechheiten hinreissen. Auf der Suche nach einem neuen Beruf macht er sich auf den Weg, um die grossen Genies der Aufklärung kennenzulernen, allen voran Jean-Jacques Rousseau. In einem anonymen Pamphlet attackiert Füssli alle Kritiker des Genfer Philosophen.
In London zeigt er seine Zeichnungen dem Chef der Royal Academy, Sir Joshua Reynolds. Dieser lobt ihn für seine Werke, die «von der italienischen Kultur durchdrungen» seien, wie er sagt. Füssli versteht zwischen den Zeilen, dass er dringend nach Rom gehen und das gesamte Quattrocento studieren muss.
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«Er ist unerträglich»
1770 ist er in Italien. Füssli in Rom sei eines der grössten Ereignisse, die man sich vorstellen könne, schreibt sein Freund Lavater. «Er verachtet alles, und seine Bonmots verschonen nichts; sein Blick ist ein Blitz, seine Rede ein Gewitter, sein Spott der Tod, seine Rachsucht die Hölle.» Und Lavater fügte hinzu: «Aus der Nähe ist er unerträglich.»
Sehr eloquent, selbstbewusst bis zur Arroganz: Füsslis «Qualitäten» sind nicht die, die man im Allgemeinen den Schweizer:innen zuschreibt, selbst zu dieser Zeit. Egal, er wird Brite!
Zürich ist zwar nicht sehr stolz auf die Episode mit dem korrupten Vogt, aber lädt Füssli ein, den Ratssaal mit einem «Rütlischwur» zu schmücken. Der Künstler kommt dem Wunsch nach, doch der Kontakt zu seinen Landsleuten ist nicht mehr wirklich vorhanden.
«Überall fühlte er sich durch kleinliche Vorurteile in seiner persönlichen Freiheit behindert», schreibt der Kunsthistoriker Paul Ganz 1945 in «Grands hommes de la Suisse» (Payot). «Es ist nicht bekannt, ob Zürich versucht hat, Füssli zurückzuholen, wie es Basel seinerzeit mit Hans Holbein getan hatte», sagt Andreas Beyer. Füssli setzt nie wieder einen Fuss in die Schweiz.
Bei der Sommerausstellung der Royal Academy im Jahr 1782 erregt Füssli mit seinem «Albtraum» Aufsehen. Das Gemälde zeigt eine schlafende Frau – oder ist sie tot? – und einen furchterregender Gnom, der auf ihr sitzt. Es ist ein symbolhaftes Werk, das vielseitig interpretiert werden kann. Der Erfolg ist durchschlagend, so dass Füssli immer mehr Versionen des «Albtraums» in Form von Gemälden, Zeichnungen und Stichen produziert.
Johann Heinrich Füssli wird für die Engländer zu Henry Fuseli. Er wird «the Wild Swiss» genannt. Ein atypischer Maler, ein Wegbereiter des Symbolismus und der Romantik und sehr beliebt beim sensationshungrigen englischen Publikum.
Verrückt nach Shakespeare
Und Füssli ist ein kluger Kaufmann, zumindest bis zu einem gewissen Grad. Da ihm im reformierten Zürich das Theater verwehrt bleibt, wird er Fan von Shakespeares Stücken. Seine Gemälde sind wie Werbeplakate für die Aufführungen, die er in Covent Garden besucht. Im Juni 1789, als die Franzosen ihre Revolution beginnen, stellt er in der neu gegründeten Shakespeare Gallery aus. Auf dem Höhepunkt seines Ruhmes eröffnen die Milton Gallery, die dem gleichnamigen Dichter gewidmet war, und die Bible Gallery, aber der kommerzielle Erfolg bleibt aus.
«Füssli, zwischen Traum und Phantasie» ist bis zum 23. Januar 2023 im Museum Jacquemart-André zu sehen. Die Ausstellung «Fuseli and the Modern Woman: Fashion, Fantasy, Fetishism», die vom 14. Oktober bis 8. Januar 2023 im Courtauld in London residiert, wird vom 24. Februar bis 21. Mai 2023 im Kunsthaus Zürich gezeigt.
Füssli stirbt 1825. Er wird in der St. Paul’s Cathedral in London beigesetzt. Die Schweiz vergisst ihn, Europa auch. «Anfang des 20. Jahrhunderts, als Zürich eine Ausstellung über die Familie Füssli organisiert, wird Johann Heinrich nicht einmal erwähnt», sagt Andreas Beyer. Das zu dieser Zeit veröffentlichte Historisch-Biografische Lexikon der Schweiz widmet Füssli nur etwa zehn Zeilen und legt mehr Gewicht auf seine Brüder und Cousins.
«Erst in den 1920er Jahren wird Füssli dank des Surrealismus wiederentdeckt», so Beyer. Das Kunsthaus Zürich widmet ihm 1925 eine Ausstellung. Erst in den 70er-Jahren veröffentlicht sein Biograf Gert Schiff das vollständige Werkverzeichnis von Füssli. «Schiff liefert uns einen interessanten Schlüssel zum Werk des Künstlers», fügt Beyer hinzu. «Da sein Vater ihm das Zeichnen verbot, arbeitete der junge Füssli nachts heimlich bei Kerzenlicht. So wird er zu einem Maler der Nacht und ihrer fantastischen Kreaturen.»
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