Schweizerisch-indische Abenteuer als Comic
Es ist eine Premiere in der Geschichte des Comics: Ein Austausch von indischen und schweizerischen Künstlern, die für einige Wochen ins jeweils andere Land geschickt werden. Das Resultat ist eine Sammlung an persönlichen Geschichten, überraschend und farbenfroh.
«Nicht hupen. In der Schweiz gilt Hupen als aggressiver Akt», heisst es hinten auf dem Wagenverdeck einer motorisierten Rikscha.
Um dieses dreirädrige Gefährt in Grün und Gelb herum, das in Indien als Taxi dient, tönt es im Strassenverkehr von Neu Delhi wie immer laut und ohne Unterbruch «Beep», «Honk» und «Toot».
Es ist das erste Bild von «Kulbhushan trifft Stöckli» über die Abenteuer und Missgeschicke eines Schweizers, der Rikscha-Fahrer werden will.
Im Verlaufe der Erzählung erfahren wir mehr über die Pannen mit der Wasserversorgung in der indischen Hauptstadt, die ersten Abfahrten eines mutigen, indischen Skiläufers, Cricket und den FC Zürich.
Das Prinzip des Buches: Fünf Schweizer Zeichner wurden eingeladen, einen Monat in Neu Delhi zu verbringen, während fünf indische Zeichner gleichzeitig einen Monat in Zürich verbringen durften. Jeder sollte, auf seine Art, in seinem Stil, einen Comic über seinen Aufenthalt und seine Erlebnisse zeichnen.
Die Schweiz, drittbekanntestes Land in Indien?
Das Projekt wurde von Anindya Roy ins Leben gerufen, einem der wenigen Herausgeber von Comics in Indien.
«Ich hatte Lust, ein Buch über die Schweiz zu machen, weil sie für uns ein Paradox ist: Während Jahren war sie in der Mittelschicht nach den USA und Grossbritannien das drittbekannteste Land (wegen der Bollywood-Filme, die in den Alpen gedreht wurden). Und trotzdem wusste niemand etwas über die Schweiz, abgesehen von den üblichen Klischees wie Berge, Schnee, Kühe…»
2007 spricht der junge Mann mit Chandrika Grover, der Direktorin von Pro Helvetia in Indien, über seine Idee. Sie ist begeistert. Die Maschine beginnt im September 2008 zu laufen, als mit Christophe Badoux der erste Schweizer in Delhi aus dem Flugzeug steigt.
«Es war das erste Mal, dass ich Europa verlassen hatte», erinnert sich der 45-jährige Familienvater. «Das erste, was mir auffiel, war die Hitze! Unglaublich war auch das unaufhörliche Tohuwabohu und die unendliche Grösse dieser Stadt. Es ist ein Monster, das nie schläft!»
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Pro Helvetia
Basierend auf diesen Eindrücken schuf der Zeichner seine Person des Schweizerischen Rikscha-Fahrers. «Alles ist wahrheitsgetreu in meiner Geschichte – ausser, dass ich selber keine Rikscha gefahren bin! Es hat so viel Verkehr, das wäre zu gefährlich gewesen», ergänzt er. «Dafür habe ich Cricket gespielt, wie die Figur meiner Geschichte.»
Der indische Nationalsport steht im Zentrum seiner Erzählung. Seine Figur versucht, es zu spielen. «Das war das Ziel meiner Reise: Ich wollte mehr über Cricket erfahren. Also haben meine indischen Freunde für mich einen Match organisiert. Ich war ein miserabler Spieler. Cricket ist wie meine Geschichte: Schwer zu verstehen und auf den ersten Blick nicht gerade attraktiv!»
Sportlicher Austausch
Während die Schweizer Cartoonisten das Cricketspiel entdeckten, haben sich die indischen Künstler in Europa besonders für den Fussball begeistert. Dieses Sujet hat Anindya Roy ins Zentrum seiner Bilderstrecke gestellt.
Auch er berichtet über seine Missgeschicke auf dem Sportplatz, über die er sich jedoch mit einem Bier während eines Matches der Schweiz gegen die Türkei hinwegtröstete.
«Wie viele Fussballfans gibt es in Indien?», fragt ein Schweizer Fan seine Hauptfigur. «30», antwortet diese. «30 Millionen?! Aber keine Nationalmannschaft, die diesen Namen verdient?!», spöttelt der Schweizer, bevor er durch die Niederlage seines Teams gegen die Türken wieder auf den Boden der Realität geholt wird.
«Zürich während der Fussball-Europameisterschaft 2008, das war ein besonderes Erlebnis. Die Leute waren fröhlicher, überall wurde gefeiert», erzählt Roy.
«Was ich an der Schweiz sonst schätze, ist die Ruhe: Man kann die Zeit voll geniessen und fühlt sich gut, wo man ist. Nicht wie in Indien, wo es immer und überall Menschen hat und man die ganze Zeit um einen Platz kämpfen muss!»
Neue Kunstform für Indien
Während «Kulbhushan trifft Stöckli» für die Schweizer eine Möglichkeit war, ein Land und seine Kultur kennenzulernen, ist das Buch für die Inder ein echter Schritt in künstlerisches Neuland. «Bei uns denken die Leute noch, Comics seien nur etwas für Kinder», erklärt Sekhar Mukherjee, Professor am Design-Institut in Ahmedabad, der ebenfalls eine der Geschichten beigesteuert hat.
«Die Kultur der ‹Graphic Novels› steht bei uns noch ganz an Anfang.» Unter einer «Graphic Novel» versteht man in der englischsprachigen Welt, im Gegensatz zu Comics wie «Superman», einen Roman in Form von Bildern.
«Dieses Buch ist ein Zeichen der Hoffnung für junge Künstler oder Studierende: Es zeigt, dass diese Art von Geschichten publizierbar ist. Darüber hinaus ist es eine geniale Kunstform, die man mit nur etwas Papier und einem Stift realisieren kann – ohne einen Computer!»
Steht Indien nun vor einer Schwärmerei für «Graphic Novels»? Auf jeden Fall hat das indisch-schweizerische Projekt bereits etwas bewirken können: Die Gruppe der beteiligten Schweizer Zeichner soll von der chinesischen Abteilung der Pro Helvetia eingeladen worden sein. Die Idee ist, das Projekt zu wiederholen. Gibt es also bald ein «Chang trifft Stöckli»?
Miyuki Droz Aramaki, Neu Delhi, swissinfo.ch
(Übertragen aus dem Französischen: Christian Raaflaub)
In der Schweiz: «Kulbhushan trifft Stöckli» wurde bis jetzt auf Deutsch und Englisch publiziert.
Vertrieben wird es vom Zürcher Comic-Verlag Strapazin.
In Indien: Pro Helvetia hat die Publikationsrechte an den Verlag Harper Collins India verkauft.
Rund 2000 Exemplare wurden gedruckt, wovon bisher etwa die Hälfte verkauft wurde.
Missionare: Anfang 19. Jahrhundert liessen sich Jesuiten, aber auch schweizerische Protestanten in Indien nieder, wo im Süden des Landes die «Basler Mission» eine wichtige Rolle in den religiösen, medizinischen und schulischen Sektoren spielte.
Handel:1851 gründete die Familie Volkart ein Handelshaus in Bombay und Winterthur zum Import von Baumwolle, Kaffee und Kakao, das schon bald zum Herzen der wirtschaftlichen und konsularischen Präsenz der Schweiz in Indien werden sollte.
Bollywood:Nach dem Ausbruch des Kaschmir-Konflikts 1989 haben die Inder die Schweizer Alpen entdeckt, wo seither jährlich etwa 50 indische Filme zum Teil gedreht werden. Indische Touristen besuchen hauptsächlich die Drehorte im Berner Oberland und in der Zentralschweiz.
Schweizer: Heute leben nicht viele Schweizer in Indien (2009 waren es 767), aber Delhi bleibt einer der wichtigsten Schweizer Partner in Asien.
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