«Alexia, Kevin & Romain», die Freiheit gegen alle Widerstände
Der Schweizer Regisseur Adrien Bordone verfolgte mit seiner Kamera drei Jugendliche auf der Suche nach Autonomie. Für diese jungen Menschen mit Behinderungen ist der Weg ins Erwachsenenalter beschwerlich. "Alexia, Kevin & Romain"Externer Link läuft am Sonntag im Wettbewerb der Solothurner Filmtage.
«Ich bin 17 Jahre alt, und ich bin ein Jugendlicher. Wenn ich 18 bin, werde ich die Klasse verlassen, und ich werde…» Romain bricht ab. Es ist schwierig, die Frage der Erwachsenen zu beantworten oder ihr gar einen Sinn zu geben. Sie haben ihn gefragt, was er später tun möchte.
Der sanfte und heitere Blick des jungen Mannes offenbart die Qualen einer Zukunft, deren Konturen noch unklar sind. Wer ist noch nie auf die unvermeidliche Frage gestossen, der sich alle Jugendlichen auf der Welt stellen müssen? Wer hatte nie Angst vor den entscheidenden Weichenstellungen, die der Übergang zum Erwachsenenalter jedem und jeder auferlegt?
Die Befragungen von Alexia, Kevin und Romain, drei jungen Schweizerinnen und Schweizern mit einer geistigen Behinderung, werden bei allen Zuschauerinnen und Zuschauern Erinnerungen wecken.
Adrien BordoneExterner Link präzisiert sofort: «Ich habe nicht einen Film über Behinderung gedreht, sondern über drei Jugendliche, die erwachsen werden und sich emanzipieren wollen, und die an einem jener zahlreichen, etwas von unserer Gesellschaft abgeschotteten Orten leben, wo wir uns um Menschen ‹kümmern›, die wir für anders halten.»
Als der Regisseur aus der zweisprachigen Stadt Biel (Kanton Bern) die Stiftung Perceval in Saint-Prex (Kanton Waadt) am Genfersee besuchte, berührte ihn augenblicklich die «etwas traurige und ruhige» Schönheit des Orts und «seine besondere Atmosphäre, ein wenig ausserhalb der Welt».
So kam er auf die Idee, sich filmisch den jungen Menschen zu widmen, die dort leben. Die Auswahl der drei Protagonisten war ein Herzensentscheid: «Ich hatte ein Casting organisiert, doch schliesslich habe ich Alexia, Kevin und Romain per Zufall auf den Gängen der Institution getroffen. Ich fand sie faszinierend und fotogen.»
Solothurner Filmtage
An den 54. Solothurner Filmtagen werden zwischen dem 24. und 31. Januar 165 Schweizer Filme gezeigt. Viele von ihnen thematisieren die Freiheit, Ideale und die Spiritualität.
Neun Filme sind im Wettbewerb um den prestigeträchtigen «Prix de Soleure», der mit 60’000 Franken dotiert ist (darunter auch «Alexia, Kevin & Romain»Externer Link).
Dieses Jahr bietet das Festival der nächsten Generation des Schweizer Kinos eine Plattform: Von den 75 langen Filmen auf dem Programm sind 18 Erstlingswerke.
Das Paradox der Autonomie
Wie alle Jugendlichen in ihrem Alter haben sie Träume, Wünsche, Ziele. «Ich möchte lernen, den Zug zu nehmen, ruhig zu sein, um überall in der Schweiz herumreisen zu können», sagt Kevin, ein grosser Blonder mit tiefblauen Augen. Alexia möchte «ein Pferd reiten», aber erst später. Die warmherzige junge Frau ruft allen um sie herum «Ich liebe Dich» zu, während sie ständig dem gesetzten Rahmen und den Erwartungen an sie entwischt.
Die drei Jugendlichen müssen sich dem stellen, was der Regisseur «das Paradox der Autonomie» nennt: «Einerseits möchte man diesen Jungen die grösstmögliche Freiheit geben. Andererseits kümmert man sich in der Institution ohne Unterlass um sie. Da ist es sehr schwierig, ein Gleichgewicht zu finden», sagt Bordone.
Auch für die Eltern ist es eine Gratwanderung. Sie müssen den Wunsch, ihre Kinder zu schützen, mit jenem in Einklang bringen, ihnen die Möglichkeit zu geben, sich zu entwickeln. Sie müssen abwägen zwischen dem Wunsch, sie ihre Sehnsüchte ausdrücken zu lassen und jenem, ihre Kinder dazu zu bringen, über sich hinauszuwachsen.
Während einem Jahr begleitete die Kamera die Jugendlichen auf ihrem langen und manchmal gewundenen Weg, der in die Volljährigkeit führt. Hinter den Kulissen war es notwendig, Vertrauensverhältnisse aufzubauen, die auf die Persönlichkeit eines jeden abgestimmt waren. «Bei Kevin war ich es, der zu Beginn von seinem Charisma beeindruckt war», sagt Bodone.
Alexia lud manchmal «die Filmer» – so nannte sie die Crew – ein, ihr zu folgen, manchmal zeigte sie eher Zurückhaltung. In einer Szene fragt sie ihre Masseurin: «Gehen die ‹Filmer› jetzt oder nicht?» Dann wendet sie sich an den Regisseur: «Geht’s, Adrien?»
Solche Interaktionen hat Bordone beim Filmschnitt schliesslich nicht zusammengekürzt. «Es gibt da eine Einfachheit, eine Ehrlichkeit in der Beziehung, die ich schön finde und die ich zeigen wollte. Es geht nicht darum, zu vergessen, dass wir da sind, sondern darum, es zu akzeptieren. Zu akzeptieren, in unserer Gegenwart Dinge zu erleben.»
Eine Verbindung zur Aussenwelt
Romain brauchte einige Zeit, bis er bereit war, bei diesem Abenteuer mitzumachen. Im Verlauf der Treffen und Diskussionen fielen bei ihm die Schranken, und die Magie funktionierte: «Heute ist er stolz auf den Film, er steigt bei den Vorführungen auf die Bühne, nimmt das Mikrofon und spricht. Seine Mutter stellte fest, dass er erwachsen geworden ist, dass er gelernt hat, aus seiner Komfortzone herauszukommen.»
Die Kamera scheint eine zentrale Rolle in diesem Dokumentarfilm zu spielen. Sie ermöglicht den Jugendlichen, aus dem Leben in der Institution auszubrechen, in der menschliche Beziehungen oft nur therapeutisch oder pädagogisch sind.
«Wir waren nicht da, um uns um sie zu kümmern, um sie zu pflegen, sondern um einen Film mit ihnen zu drehen. Es war eine Beziehung von Erwachsenen mit Erwachsenen», betont Regisseur Bordone.
Zudem wurde im weiteren Verlauf der Dreharbeiten die Grenze der Behinderung immer durchlässiger. «Ich habe entdeckt, dass dieser Begriff überhaupt nichts bedeutet. Es gibt eine derartige Vielfalt von Personen, und wir haben alle unsere Schwierigkeiten, unsere ‹Behinderungen›.»
«20-Jährige sind schön»
Die Adoleszenz, die vom US-Kino oft verherrlicht wird, dieser ganz besondere Moment, in dem sich jeder Mensch zwischen Freuden und Enttäuschungen, Neuheiten und Verzicht aufbaut, fasziniert Bordone.
Sein letzter Kurzfilm «Après l’hiver»Externer Link (Nach dem Winter) erzählte die Geschichte von vier Jugendlichen, die ihren Weg in die Berufswelt suchten. «Ich finde es wichtig, die Momente des Übergangs, der Krisen zu filmen, an denen man wächst», sagt er. Von der Jugend gehe aber auch eine ästhetische Attraktion aus: «20-Jährige sind schön, und wenn man Kino macht, will man, dass die Bilder schön sind.»
Zum Ende des Films findet Romain schliesslich eine Antwort auf die eingangs gestellte Frage: «Ich will Geld verdienen, damit ich mir ein iPhone kaufen kann.» Romain hat die gleichen Wünsche wie die meisten Jugendlichen in seinem Alter.
«Diese Szene zeigt, dass er autonom wird, dass er Geld verdienen und dieses nach eigenem Gutdünken wird ausgeben können. Man könnte natürlich auch sagen, dass niemand einer Gesellschaft entkommt, in der es heisst, Glück bedeute, ein iPhone zu besitzen», sagt Bordone. Auf dem strahlenden Gesicht des jungen Mannes ist nun seine Freude am Erwachsenwerden und an einem Gefühl der Stärke zu sehen.
Regisseur und Philosoph
Der 1987 geborene Adrien Bordone wuchs in Biel im Kanton Bern auf.
2010 machte er den Bachelor-Abschluss in Kino an der Ecole Cantonale d’Art de Lausanne (Ecal). Seither arbeitet der Regisseur in der Bieler Filmemacher-Vereinigung «A Travers Champs»Externer Link.
2017 absolvierte er zudem einen Master-Abschluss in Philosophie an der Universität Zürich.
Bordone hat bereits mehrere Kurzfilme realisiert, darunter «En vrai je suis un monstre» (2010), der für mehrere Festivals in der Schweiz und im Ausland ausgewählt wurde. Sein jüngster Dokumentarfilm «Après l’hiver» wurde für die Solothurner Filmtage wie auch für das Zurich Film Festival ausgewählt und gewann den Berner Filmpreis für den besten Dokumentarfilm 2015.
«Alexia, Kevin & Romain» ist sein erster langer Film.
(Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub)
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