Sowjetunion und Russland – «Im Krieg spielt Literatur eine enorme Rolle»
Warum der Westen die Verbrechen des Kommunismus nicht kennt, über die Rolle der Literatur und über die nationale Schuld. Unser Gespräch mit der russischen Philologin Anastassia Forquenot De La Fortelle.
«Hundert Jahre UdSSR: Fortsetzung folgt?» Das fragte sich die Universität Lausanne anlässlich einer internationalen Konferenz. Wir sprachen mit deren Organisatorin Anastassia Forquenot De La Fortelle, über die Rolle der Literatur im Krieg. Die Professorin leitet an der Universität Lausanne den Lehrstuhl für Slawistik.
swissinfo.ch: Wie kam es zu dieser Konferenz?
Anastassia Forquenot De La Fortelle: Die Gründung der UdSSR 1922 war ein Ereignis, das enorme Auswirkungen auf den Verlauf der Weltgeschichte hatte. Ursprünglich hatten wir nicht nur an eine akademische Konferenz gedacht, sondern auch an eine Retrospektive sowjetischer Filme und an eine Fotoausstellung.
Mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine wurde aber alles auseinandergerissen. Das Projekt schien nun absolut fehl am Platz, insbesondere unter seinem ursprünglich angedachten Titel «100 Jahre Sowjetunion: Von der Last der Vergangenheit zu einer besseren Zukunft».
Musste aufgrund der Aggression gegen die Ukraine auch die Sicht auf die UdSSR neu definiert werden?
Ja, wir wollten die totalitäre Vergangenheit im Lichte des Angriffs auf die Ukraine analysieren. Es scheint offensichtlich, dass dieser Krieg auf die Tatsache zurückzuführen ist, dass das sowjetische Erbe nicht ausreichend aufgearbeitet wurde. Das war auch der Grund, warum der Titel der Konferenz dann anders lautete: «100 Jahre UdSSR: Fortsetzung folgt?»
Europa und die Welt sind sich der Verbrechen des Nationalsozialismus wohl bewusst, aber weniger jenen des Kommunismus. Warum?
Es handelt sich nicht um Unwissenheit, eher um mangelnde Beachtung vorhandener Kenntnisse. Schliesslich war die Ideologie des Nationalsozialismus im 20. Jahrhundert weltweit gescheitert. Im Falle des Kommunismus hält sich, anders als beim Nationalsozialismus, weiterhin eine Unterscheidung zwischen Theorie und Praxis.
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Viele sehen die Nazi-Ideologie als menschenfeindlich, den Kommunismus aber auf dem Boden der Aufklärung gewachsen. Ja, er wurde im 20. Jahrhundert in dieser Optik «etwas diskreditiert», aber eine Reihe von totalitären Experimenten konnte in der Wahrnehmung dieser Leute den ursprünglichen Glanz dieser Ideologie nicht trüben. Der Erinnerung an den Gulag fehlt die schreckliche Intensität und Trauer, die die Erinnerung an den Holocaust kennzeichnen.
Die UdSSR, später Russland, rühmten sich immer als das Land der Leser und Denker. Jetzt führt die Nation von Schriftstellern wie Tolstoi und Dostojewski einen verbrecherischen Krieg gegen die Ukraine. Wie ist es möglich?
Ich glaube, dass Literatur mehr als «Buchstaben auf Papier» ist. Sie kann Einfluss auf das das reale Leben einer Person haben. Aber man sollte diesen weder verabsolutieren noch idealisieren. Das 20. Jahrhundert hat uns zu viele Beispiele von gebildeten und belesenen Menschen gebracht, die ungeheuerliche Gräueltaten begangen haben.
Wozu braucht es Literatur dann, wenn sie einem nichts beibringen kann?
Die Kunst entwickelt stets eine persönliche Beziehung zu den Menschen und spricht sie immer persönlich an. Manchen bedeutet sie nichts. Anderen kann ein Buch die Sicht auf die Welt und den Menschen auf den Kopf stellen.
Ich kenne Leute, die die Lektüre des «Archipel Gulag» als eine der wichtigsten Etappen ihrer geistigen Entwicklung sehen. Während der Perestroika, von 1985 bis 1999, war es ein literarischer Text, der vielen Menschen die historische Wahrheit über die jüngste totalitäre Vergangenheit nahebrachte. Die Rolle der Literatur in einer Kriegssituation ist also enorm.
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Wird Literatur auch missbraucht, um ideologische Vorlagen zu liefern?
Natürlich wird sie auch als Propagandawerkzeug missbraucht! Der gesamte sozialistische Realismus wurde auf dieser Grundlage aufgebaut. Am Vorabend des Beginns des sowjetisch-deutschen Krieges, 1941 bis 1945, forderte die militärische Führung der Roten Armee, dass Schriftsteller «den Ton in der militärischen Propaganda angeben» müssen. Sie bemängelte, die russische Belletristik sei in dieser Hinsicht immer noch unzureichend. Und die sowjetische Belletristik beeilte sich gehorsamst, die Fehler zu korrigieren.
Heute betreiben Schriftsteller wie Sachar Prilepin genau diese Art von Propaganda, indem sie einen «Mythos Donbass» schaffen, wo sich mutige, aufopferungsvolle Helden erheben, um ein angeblich leidendes Volk zu verteidigen.
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