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Star-Architekt Bernard Tschumi: Auseinandernehmen und Zusammensetzen

Bernard Tschumi
Gelungene urbane Architektur sei wie ein Brettspiel, wie Monopoly oder Schach: Bernard Tschumi. Martin Bureau/AFP

Bernard Tschumi war fast 40 Jahre alt, als er sein erstes Projekt realisierte. Die Gestaltung des Pariser Parc de la Villette läutete seine internationale Karriere ein und gilt als Meisterwerk des Dekonstruktivismus.

Im Pariser Parc de la Villette stehen 26 signalrote stiegenartige Gebilde, halbe Brücken, begehbare Strukturen wie Cafés, Kioske oder auch Spieltürme für Kinder. Sie wirken wie kreative Installationen, zerlegt und gegen das normale Mass und die Gewohnheit wieder zusammengesetzt – sind rasterförmig auf dem Gelände angeordnet.

Die Gestaltung des Parks ist das erste gebaute Werk des Schweizer Architekten Bernhard Tschumi. Es war 1983 und der Auftrag für den Park kam für ihn genau zur richtigen Zeit, sagte Tschumi späterExterner Link.

Das ehemalige Industriegelände im Norden von Paris gab ihm die Chance, endlich seine Konzepte in die Tat umzusetzen. Seine Follies – so nennt man Zierbauten im Gartenbau aber auch Verrücktheiten – sollen den Besucher:innen Orientierung geben, ohne sie zu leiten.

Parc Villette
Der Parc de la Villette ist der grösste Park und die zweitgrösste Grünfläche von Paris. Keystone/Chromorange

Zwar gibt es blaue Verbindungen, aber viele Wege sind möglich, keiner ist vorgegeben. Tschumi überzeugte die Jury und setzte sich gegen 470 Teams aus 70 Ländern durch. Er selbst nennt den gesamten Park das grösste dekonstruierte Gebäude in der WeltExterner Link.

Zerlegen und neu zusammensetzen

Vor dem Pariser Auftrag für den Parc de la Villette hatte er seine Visionen nur auf dem Blatt, in Zeichnungen festgehalten. Jetzt kannte ihn auch die Öffentlichkeit, nicht mehr nur die Architekturszene, in der er sich auch mit seinen theoretischen Schriften bereits einen Namen gemacht hatte. Das Pariser Projekt festigte seinen Ruf als Mitbegründer der dekonstruktivistischen Architektur, die in diesen Jahren die Architekturszene aufwühlte.

Sie war ein Aufschrei des Protestes. “Die achtziger Jahre waren die konservativste Architektur-Periode des 20. Jahrhunderts“, erinnert sich Tschumi mit Schrecken in einen InterviewExterner Link. Nach der nüchternen Moderne wurden im Post-Modernismus plötzlich Pfeiler und Verzierungen wieder salonfähig, man bediente sich aus dem Architektur-Baukasten der Vergangenheit.

Tschumi und die ihm Gleichgesinnten sahen es mit Grauen und entwickelten jede und jeder für sich Gegenentwürfe. Sieben von ihnen widmete das New Yorker Museum of Modern Art MoMaExterner Link 1988 dann eine vielbeachtete Ausstellung: Zaha Hadid, Frank Gehry, Rem Koolhaas, Daniel Libeskind, Peter Eisenman und Coop Himmelb(l)au sowie eben auch Bernard Tschumi.

Deren Titel “Deconstructivist Architecture“ wurde zu einem Programm, beziehungsweise zu einer Art Label für die Arbeit der damals in der Ausstellung Gezeigten. Sie alle waren an der Idee des Dekonstruktivismus von Jacques Derrida interessiert, wollten Altes sprengen oder demontieren und es neu formieren – statt sich in historistische Formen flüchten.

Tschumi behagte der Überbegriff aber nie. “Wir wollten zeitgenössisch sein, und keine Bewegung, die wieder vergeht», erinnert er sichExterner Link. “Es ging darum, Architektur wieder mit Ideen und Erfindungen zu verknüpfen.“

Das tat jede und jeder auf seine Art: Das Grundprinzip Fragmentation und Kombination ist zum Beispiel auch das Merkmal von Frank Gehrys Guggenheim MuseumExterner Link in Bilbao oder Daniel Libeskinds Erweiterungsbau des Jüdischen MuseumsExterner Link in Berlin.

Sie entziehen sich der gewohnten Formsprache, bauten mal fliessend runde, mal zackige, wie zerbrochene und aus den Teilen neu zusammengesetzte Gebäude, die den Betrachtenden gleichzeitig verwirren und erstaunen und auch im Inneren auf ungewohnte Pfade setzen.

Ein Papier-Architekt

In den 1980er-Jahren zur Zeit der MoMa-Ausstellung lebte Tschumi bereits hauptsächlich in New York, die USA hatten den 1944 Geborenen schon früh fasziniert. Immer wieder erzählt er in Interviews von einem entscheidenden Moment in seinem Leben: Als 17-jähriger Austauschschüler in den USA blickte er vom damals höchsten Gebäude Chicagos auf die Stadt hinab und war gefesselt.

Blick auf Chicago und den Lake Michigan
Blick auf Chicago und den Lake Michigan. Keystone

“In Chicago habe ich gesehen, was eine Stadt sein kann. Es hat meine Sicht der Welt verändert. In Chicago habe ich beschlossen, Architekt zu werden“, erzählt Tschumi auch im Gespräch mit dem Architectural ReviewExterner Link. Seither pendelt er zwischen New York und Paris, unterhält in beiden Städten Büros. Er baut in den USA, Europa und Asien.

Doch seine Ausbildung erhielt er in seinem Heimatland. Als Kind einer französischen Mutter und eines Schweizer Vaters wuchs er zwischen Lausanne und Paris auf. Sein Vater war der renommierte Schweizer Architekt Jean Tschumi. Er entwarf unter anderem den Hauptsitz von Nestlé in Vervey.  Wie viele renommierte Schweizer Architekt:innen studierte Bernard Tschumi an der ETH Zürich.

Dann wurde ihm seine Heimat zu eng. In den 1960er-Jahren fanden avantgardistische Diskussionen anderorts statt, Tschumi dürstete danach, dabei zu sein. Erst zog es ihn nach Paris, dann nach London und New York, immer auf der Suche, die starren Grenzen zwischen Architektur und Kunst aufzubrechen. Er tauschte sich mit Intellektuellen wie Jacques Derrida aus, unterrichtete, zeichnete, verfasste Schriften.

Immer wieder ist der sich bewegende Mensch, sind die Nutzer:innen der Gebäude das strukturierende Element für seine Ideen und Arbeiten. Das war schon in den Manhattan TranscriptsExterner Link angelegt. Sie entstanden zwischen 1976 und 1981 in New York und sind heute ein Klassiker. Tschumis Zeichnungen ähneln Anleitungen für Tanz-Choreografien, zeigen Menschen in Räumen in Bewegung. Aus diesen mit Vektoren nachgezeichneten Laufrichtungen entstehen dann Konzepte.

Architektur macht Angebote für diese Bewegungen, ohne diese starr vorzuschreiben. Für die Manhattan Transcripts wie für andere Entwürfe Tschumis aus den früheren Jahren gilt jedoch: Diese Architektur muss sich in der Praxis nicht beweisen, keine Budgets einhalten und sich mit keinem Bauherren arrangieren. Sie besteht nur in der Theorie – daher klebte an Theoretikern wie Tschumi damals auch das Etikett des Papier-Architekten.

Unverkennbarer Nicht-Stil

Als er dann tatsächlich baute, mündete Tschumis Revolution gegen den Mainstream der 1980er-Jahre nicht in eine wiedererkennbare Formsprache wie bei Frank Gehry, dessen häufig metallglänzenden verschlungenen körperlichen Strukturen zu seinem Markenzeichen geworden sind. Einen typischen Tschumi-Stil gibt es nicht. International gehört der 2009 fertiggestellte Neubau des Akropolis-Museums in AthenExterner Link zu seinen berühmtesten Projekten.

Das Akropolismuseum von oben
Das Akropolismuseum liegt gleich neben der Akropolis, im historischen Zentrum von Athen. Nicolas Economou/nurphoto/AFP

Gegenüber vom Pantheon gelang Tschumi ein Kunststück: Das Museum ordnet sich der Einzigartigkeit des historischen Ortes unter und strahlt dennoch eine eigene Grösse aus. Ganz anders das gläserne blaue Wohngebäude BLUEExterner Link, das inmitten brauner Ziegelbauten in der Lower East Side Manhattan alle Blicke auf sich zieht.

Sicht auf den Blue Tower von unten
The Blue Condominium, auch bekannt als Blue Tower, im Herzen von New York. Maisant Ludovic/Hemis /AFP

Was die Gebäude verbindet, ist die Philosophie des Architekten. Beginn immer mit einer FrageExterner Link, rät er. Und glaube nie, die Antwort bereits zu kennen. Was kann Architektur jenseits bestehender Ideen und des Realisierbaren eigentlich sein? Wo landet sie, wenn man das Machbare und Gewohnte zur Seite drängt und der Imagination Raum lässt? Diese Auseinandersetzung, das Spielen mit den Möglichkeiten, die Querverbindungen zu Film, Literatur und Philosophie sind die Basis für Tschumis Entwürfe und Projekte.

Tschumi definiert Architektur als ein Zusammenspiel von Raum, Ereignis und Bewegung. Im Parc de la Villette entsteht daraus die Anordnung der besagten kreativen roten Strukturen. So gilt es auch für Gebäude: Das Konzept und die Bewegung stehen vor der Form, sind wichtiger als diese: “Konzepte unterscheiden Architektur von Gebäuden. Ein Fahrradschuppen mit einem Konzept ist Architektur, eine Kathedrale ohne eines ist nur ein GebäudeExterner Link.“

Gelungene urbane Architektur sei wie ein Brettspiel, wie Monopoly oder Schach, sagt Tschumi. Der Architekt entwirft das Brett und ein paar Regeln, die Menschen bespielen es, nutzen auf ihre eigene Art in einer endlosen Interaktion. In Gebäuden arbeitet der Architekt häufig mit hängenden offenen Laufwegen, die sich auf einer oberen Ebene der Gebäude kreuzen und auch Raum zum Verweilen geben. So zum Beispiel im Lerner Center der Columbia University, an der Tschumi zwischen 1988 und 2003 auch unterrichtete.

Das Hauptgebäude von Vacheron Constantin
Der Sitz von Vacheron Constantin in Plan-Les-Ouates, Genf. Sandro Campardo/Keystone

Der Schweiz waren Tschumis Entwürfe wohl lange zu wenig bodenverhaftet. Die NZZ beklagte einst die Ignoranz, auf die Tschumi in seinem Herkunftsland damals traf. Doch dann traute sich auch seine Heimat, ihn zu beauftragen. 2005 baute er in Genf die Zentrale für den Schweizer Uhrenherstellers VacheronExterner Link, 2014 die ufoähnliche Carnal HallExterner Link auf dem Campus des Eliteinternats le Rosey. Es wirkt wie ein Symbol. Tschumi ist auch in der Schweiz gelandet.

Sicht durch die Bäume auf das Auditorium Carnal Hall
Die Carnal Hall in Le Rosey, Rolle. Keystone/View/Christian Richters

Mehr als LeCorbusier

Unsere Sommerserie porträtiert einflussreiche und verquere Schweizer Architekt:innen der letzten hundert Jahre. Wie haben sie prägend über den Raum nachgedacht? Wo auf der Welt haben sie Spuren hinterlassen? Und: Welche Bauten beeindrucken uns noch heute?

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