Théâtre de Vidy, neue Direktion, neuer Wind

Der Franzose Vincent Baudrille bekräftigt gegenüber swissinfo.ch, er wolle die "internationale Dimension des Lausanner Théâtre de Vidy weiterentwickeln". Er war am 20. Dezember 2012 zum neuen Direktor der Institution ernannt worden.
Die Nachfolge von René Gonzalez anzutreten, ist keine einfache Aufgabe. Unter Gonzalez, der im April 2012 gestorben ist, hatte sich das Théâtre de Vidy zum Schaufenster des Schweizer Theaterschaffens im Ausland entwickelt. Es brauchte eine Persönlichkeit mit internationalem Rang und Format.
Unter den acht eingegangenen Bewerbungen haben sich die Stadt Lausanne und die Stiftung für Schauspielkunst (Fondation pour l’art dramatique) nun für den Franzosen Vincent Baudriller entschieden, der noch bis Ende Juli Co-Direktor des Festivals von Avignon bleibt. Seine neue Stelle wird Baudriller im September 2013 antreten.
swissinfo.ch: Sie wurden vor allem aufgrund Ihres künstlerischen Projekts gewählt. Können Sie uns etwas dazu sagen?
Vincent Baudriller: Vidy interessiert mich aus zwei Gründen. Erstens, weil es eines der grössten Theater Europas ist und eine beeindruckende internationale Ausstrahlung hat. Und zweitens, weil es lokal sehr gut verankert ist in der Westschweiz.
Mein künstlerisches Projekt baut auf dieser doppelten Singularität auf, die zugegebenermassen selten ist. Es gibt nicht viele Bühnen, die über solche Kraft verfügen. Diese sollte man daher auch nutzen. Und um das zu tun, muss man das Theater Vidy stark in seinem territorialen Kontext verankern, das heisst in Lausanne.
In dieser kosmopolitischen Stadt mit ihrer Bevölkerung, zu der viele Angestellte multinationaler Firmen gehören, läuft viel. Sie liegt aber auch im Herzen des Genferseebogens. Ich finde es sehr motivierend, diese doppelte Charakteristik herauszustreichen, indem man sich auf die Identität des Vidy abstützt, das sowohl ein Werk- als auch ein Produktionstheater ist, mit vielen Tourneen in der Welt.

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swissinfo.ch: Beim Festival von Avignon, wo sie noch bis Juli als Co-Direktor tätig sind, haben Sie bekanntlich viele internationale Erfahrungen gemacht. Was planen Sie konkret zu tun, damit das Théâtre de Vidy von diesen profitieren kann?
V.B: Die Kulturschaffenden, die ich im Rahmen meiner Reisen treffen konnte, mein Blick auf die Bühnen Europas, Amerikas und Afrikas sind Teil meines Universums, das ich in das Vidy integrieren werde. Ich werde mein Amt erst im September antreten. Es ist also noch zu früh, jetzt schon in Details zu gehen.
Was ich hingegen weiss, ist, dass sich das Vidy vermehrt dem Ausland zuwenden wird, mit dem Wunsch, die internationale Dimension im Innern des Theaters selbst noch zu vertiefen.
swissinfo.ch : Was meinen Sie damit?
V.B: Ich hoffe einerseits, Künstlerinnen und Künstler aus dem Ausland, aus anderen Kulturkreisen, hierher zu holen, deren Sensibilitäten sich mit denen der Schweizer Kulturschaffenden kreuzen werden. Andererseits sollte es zu einer Resonanz mit dem kosmopolitischen Lausanne führen.
Der 1968 geborene Franzose leitet seit 10 Jahren als Co-Direktor das Festival d’Avignon, das er Ende Juli 2013 verlassen wird.
Während des Studiums an der École supérieure de commerce in Rouen hilft er bei der Gründung eines Studententheater-Festivals.
Nach seinem Diplom wird er 1990 von der französischen Botschaft in Madrid angestellt, bleibt aber der Welt des Theaters treu.
1992 tritt er eine Stelle beim Festival d’Avignon an, als Produktions-Attaché für das traditionelle südamerikanische Programm.
Rasch steigt er beim Festival auf der Karriereleiter nach oben und wird Organisator für die internationalen Programme des Festivals, für Indien (1995), Russland (1997) und Lateinamerika (1999).
2003 wird er zum Co-Direktor ernannt. Baudriller und die Co-Direktorin Hortense Archambault hauchen dem in die Jahre gekommenen Festival neues Leben ein. Seither wird jede Ausgabe in Zusammenarbeit mit einem «assoziierten» Künstler mit internationalem Renomme konzipiert.
Im Januar 2012, wird Baudriller mit dem französischen Orden «Officier des Arts et des Lettres» ausgezeichnet.
Im September übernimmt er die Direktion des Théâtre Vidy in Lausanne.
swissinfo.ch: Aber das hat doch auch schon Ihr Vorgänger René Gonzalez getan, oder nicht?
V.B: Ich ziehe es vor, Vergleiche zu vermeiden. Ich komme mit meinen eigenen Ambitionen und zwangsläufig mit neuer Energie, die darin besteht, die künstlerischen Stile zu diversifizieren und die ästhetischen Gebiete zu erweitern.
swissinfo.ch: Kommen wir zum Lokalen: In der Schweiz ist der kulturelle Austausch zwischen den verschiedenen Sprachregionen oft nicht einfach zu konkretisieren. So sieht man auch nicht viele Deutschschweizer, die in der Romandie auftreten und umgekehrt. Wollen Sie auch in diesem Bereich versuchen, etwas mehr zu tun?
V.B: Der mangelnde Dialog zwischen der französisch- und der deutschsprachigen Schweiz kann in der Tat überraschend sein. Aber gut, ich bin Franzose. Ich habe daher fast zwangsläufig eine entspanntere Beziehung zu den verschiedenen Schweizer Kulturen. Dennoch denke ich, dass die Identität eines Theaters immer mit der Stadt oder der Region verbunden ist, in der es steht. Ich werde also Beziehungen mit den lokalen Bühnen und Kunstschaffenden Vorzug geben. Aber Achtung: Ich verknüpfe das mit denselben Qualitätsanforderungen, die auch Kunstschaffende aus dem Ausland erfüllen müssen, die ich einladen will.
Und die Beziehungen zur Deutschschweizer Bühnenwelt, die ich erfinderisch und originell finde und die einen schönen Sinn für Ironie hat, will ich verstärken. Es gibt dort eine Vielfalt, die man nutzen sollte.
Lassen Sie mich erklären: Der Austausch wird es möglich machen, das Wort «Schweiz» und die ganze kulturelle Komplexität, die sich dahinter verbirgt, zu hinterfragen. Die Sprache eines Künstlers nährt sich aus seinem Land, seiner Geschichte. Und wenn verschiedene Geschichten zusammen kommen, ist es immer faszinierend.
swissinfo.ch: Es gibt Theaterschaffende aus der Romandie, die sich beklagen, das Théâtre de Vidy sei für Truppen aus Frankreich offener als Bühnen in Frankreich für französischsprachige Schweizer. Werden Sie den Kurs ändern?
V.B: Ich werde Kunstschaffende nicht aufgrund ihres Passes, sondern ihres Talents einladen. Abgesehen davon, ob Schauspieler oder Regisseure aus der Westschweiz von französischen Theatern eingeladen werden, hängt nicht von mir ab, sondern von den Programmverantwortlichen. Diese treffen die Wahl und stellen ihre Programme zusammen. Ich denke aber nicht, dass die französische Theaterszene protektionistisch ist. Meinen Erfahrungen zufolge gehört sie zu den offensten in Europa.
Aber die eigentliche Frage liegt nicht da. Um Schweizer Künstler im Ausland «verkaufen» zu können, muss man wissen, wie man sie «sichtbar» macht. In dem Zusammenhang plane ich, ein Mini-Festival zu organisieren, das während des Verlaufs einer Saison stattfinden und Programmverantwortlichen aus aller Welt ermöglichen soll, sich in schneller Abfolge Werke von hier anzusehen, die sie unter Umständen einkaufen könnten. Ich denke, dass dies ein attraktiver und motivierender Prozess sein wird.
swissinfo.ch: Was antworten Sie Lesern der Westschweizer Presse, die nach Ihrer Ernennung gefragt hatten, «wieso an die Spitze von Kulturinstitutionen weiterhin Menschen aus dem Ausland engagiert» würden?
V.B: Ich schlage ihnen vor, diese Frage an die Behörde zu richten, die mich berufen hat.
(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)

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