Gereifte Götter: Im Proberaum der Young Gods
Die Schweizer Band The Young Gods prägte vor 40 Jahren den Industrial Rock und gilt als innovativ und experimentierfreudig. Heute wenden sich die Genfer dem elektronischen Minimalismus zu.
«Viel Lärm. Viele Körper. Ein Krieg im Inneren. Ein Krieg draussen», schreit Franz Treichler, während das Schlagzeug mit 300 bpm stampft, bis die Gitarrenloops und Schiessgeräusche einsetzen. Als die Young Gods am 24. Mai 1985 im New Morning, einem Saal in einem stillgelegten Kraftwerk am Ufer der Rhône in Genf, ihre Verstärker anwerfen, schlägt der Sound wie ein Hammer aufs Publikum ein.
Der Song Envoyé ist keine volkstümliche Ode an die Berge, sondern ein Schrei der Revolte. Es ist ein Stil, der in der Schweiz noch nie zuvor gehört wurde und die Musikgeschichte prägen sollte.
Fast vierzig Jahre später sind Cesare Pizzi (Sampler, Computer), Bernard Trontin (Schlagzeug, Synthesizer) und Franz Treichler (Gitarre) erfahrene Künstler. Letzterer ist sogar Träger des Schweizer Grand Prix Musik, den er 2014 vom Bundesrat persönlich in Empfang nehmen konnte. Und da Kunst mit ständiger Innovation einhergeht, hat die Band im September ihr 12. Studioalbum veröffentlicht: «The Young Gods Play Terry Riley In C», inspiriert vom Werk des US-Komponisten Terry Riley, der als Pionier der minimalistischen Musik gilt.
14. November 1961: Geburt in Freiburg
1971-1983: Studium der klassischen Gitarre an den Konservatorien von Freiburg und Lausanne. Lehrerdiplom für den Eintritt in die Virtuosenklasse.
1976: 2. Preis beim 11. Internationalen Wettbewerb für klassische Gitarre in Mailand und 1. Preis beim Schweizer Jugendwettbewerb für klassische Gitarre.
1979: Franz Treichler gründet mit Cesare Pizzi und Jacques Schouwey die erste Punkband Freiburgs, «Johnny Furgler & the Raclette Machine».
1981-1983: Eintritt in den Verein Fri-Son.
1985: Umzug nach Genf und Gründung der Band Young Gods mit Cesare Pizzi und Frank Bagnoud.
1997-2003: Engagement als Leiter der Tanzkompanie von Gilles Jobin.
2005: Die Young Gods feiern ihr 20-jähriges Bestehen am Jazzfestival von Montreux.
2014: Gewinn des Schweizer Grand Prix Musik.
Anarchie und 80er-Jahre-Pop
Riley führte «In C» erstmals 1964 auf. Das Stück besteht aus nur 53 musikalischen Phrasen (eine Gruppe zusammengehörender Töne, die eine Einheit bilden) und jede Phrase kann nach Ermessen jeder Musikerin oder jedes Musikers wiederholt werden. Der Komponist empfiehlt 35 Musiker:innen für die Aufführung, aber sie funktioniert auch mit weniger. Die Interpret:innen werden ermutigt, die Phrasen zu unterschiedlichen Zeiten zu beginnen, ansonsten ist alles offen: die Dauer, die verwendeten Instrumente, der Stil und sogar die Geschwindigkeit der Ausführung. Deshalb benötigt es auch niemanden, der dirigiert. Entscheidend ist die Interaktion zwischen den Musiker:innen auf der Bühne.
Die Young Gods führten «In C» erstmals 2019 mit dem Freiburger Musikkorps Landwehr auf. Das Ergebnis war so überzeugend, dass die Musiker beschlossen, es auch im Studio aufzunehmen. Innerhalb einer Stunde und ohne Unterbrüche war es geschafft. Das Ergebnis ist intim: Die Perkussion beginnt mit einem Crescendo, danach kommen Loops hinzu, die sich überlappen. Echoartig fügen sich die Noten ein, bevor sie langsam im Decrescendo verschwinden. Es entsteht eine traumhafte und introspektive Atmosphäre.
Dass «In C» der Young Gods an die Popmusik der 1980er-Jahre erinnert, ist kein Zufall. Neben Gitarre, Schlagzeug und Synthesizern verwendeten die Genfer auch Instrumente aus dem Schweizer Museum und Zentrum für elektronische Musikinstrumente in Freiburg (SMEM), darunter geschichtsträchtige Objekte wie den Synthesizer «Oberheim OB-8», der von den Pet Shop Boys verwendet wurde, oder der erste polyphone Synthesizer «Prophet 5», der auf Michael Jacksons Album «Thriller» zu hören ist.
Wurzeln in Bossa und Rock
Die brasilianische Kultur hatte einen grossen Einfluss auf die Young Gods. «Zuhause hörten wir ständig brasilianische Musik, wir hatten ein Klavier und mein Vater besass eine Bossa-Nova-Sammlung», erzählt Francis José Conceição Leitão (alias Franz) Treichler im Probestudio der Band. Dieser enge Raum im Keller einer alten Garage im Zentrum Genfs wird mit den unzähligen Verstärkern, einem Schlagzeug, Instrumenten, Computern und Mischpulten noch kleiner. Das einzige Accessoire ist die brasilianische Flagge, die einen Monitor verdeckt.
Sein Vater war der Leiter der portugiesisch-sprachigen Redaktion von Schweizer Radio International (SRI), dem Vorläufer von swissinfo.ch. «Der brasilianische Musikcode hat uns geprägt», erzählt Treichler. Inspiriert wurde er aber auch von Deep Purple. Und vom Doors-Album «L.A. Woman», das er als Geburtstagsgeschenk erhielt. Sein Vater nahm ihn schliesslich mit zu einem Freund, einem Professor für klassische Gitarre am Konservatorium Freiburg, und bat diesen, seinem Sohn das Spielen beizubringen. Franz war damals elf Jahre alt.
Ende 1985 reiste der junge Musiker nach London, um die ersten Songs seiner neu gegründeten Band Young Gods abzumischen. «Wir arbeiteten mit einem jungen Schweizer Produzenten namens Roli Mosimann zusammen. Daraus entstand auch der Song Envoyé», erzählt Treichler. Ihre Arbeit erregte die Aufmerksamkeit der renommierten englischen Musikzeitschrift Melody Maker.
Als die Band zwei Jahre später ihr Debütalbum «The Young Gods» herausbrachte, erklärte es der Melody Maker zum Album des Jahres. «Das war eine unglaubliche Sache für uns. Man hielt uns für eine experimentelle Band. In England gab es niemanden, der das Gleiche tat. Und so begannen die englischen Journalisten, in die Schweiz zu kommen, um uns zu interviewen. Sie fragten uns, wie man als Schweizer solche Musik machen kann», erinnert er sich.
Treichler erklärt die Formel für ihre Musik – das Mischen von Instrumenten mit der Collage von Klängen – durch seinen Wunsch, die Fähigkeiten der Instrumente zu extrapolieren. «Als klassischer Gitarrist hatte ich das Gefühl, mich im Kreis zu drehen und immer wieder auf die gleichen Akkorde zurückzukommen. Ich wollte Rockmusik machen, aber mit einer neuen Technik und sie mit verschiedenen Ästhetiken mischen. Also begann ich, beim Komponieren einen neuen Ansatz zu verfolgen – klangbezogen statt tonal», wird der Musiker in der Biografie «The Young Gods – Long Road 1985-2020» des Journalisten Olivier Horner zitiert.
Tüfteln statt trenden
Aber warum eigentlich Young Gods? Der Bandname sei von einem Song der Swans inspiriert, einer einflussreichen Musikgruppe der US-Experimentalszene, deren erstes Schweizer Konzert Treichler 1984 mitorganisierte.
1991 reiste er in die USA, um an der Quelle des Rock’n’Roll Inspiration fürs nächste Album finden: «T.V. Sky». Es sollte zum Opus Magnum der «jungen Götter» werden. Gemeinsam mit den anderen Bandmitgliedern, die sich an verschiedenen Orten in Europa aufhielten, nahm er Ideen auf und experimentierte am Computer und an der Gitarre. Es entwickelte sich eine laborhafte Arbeitsmethode, welche die Band noch heute einsetzt.
«T.V. Sky», das englische Texte hat, wurde mit über 250’000 verkauften Alben zum grössten Erfolg der Young Gods. Doch in den USA schafften sie den Durchbruch nicht. «Wir wurden als zu europäisch betrachtet. In Amerika regiert eine Schock-Kultur. Wer verkaufen will, muss schockieren, so wie das zum Beispiel Marilyn Manson tut.»
Statt Trends hinterherzurennen, besannen sich die Young Gods, die inzwischen in die Schweiz zurückgekehrt waren, auf ihre grosse Stärke: Ihre Kreativität. Nach «T.V. Sky» produzierten sie sieben weitere Alben. Als 2020 die Pandemie ausbrach, zogen sie sich in die Aufnahmestudios zurück, und als sich die Bühnen leerten, wurde Franz Treichler bewusst, wie wichtig ihre Arbeit ist. «Wir brauchen Kunst, weil sie uns hilft, mit dem Leben klarzukommen. Musik ist eine Sprache, eine Poesie, die Worte, Klänge und Rhythmen miteinander verbindet und mit unserer Seele kommuniziert. Im Grunde ist dies die Essenz des Menschseins.»
Und was macht ihren Sound so einzigartig? La Monte Young, ein US-Musiker und Zeitgenosse Rileys, der als Mitbegründer des Minimalismus gilt, hat vielleicht die Antwort: «Jede Frequenz wird an einem anderen Punkt der Grosshirnrinde wahrgenommen. Wenn also viele Frequenzen wiederholt werden, wirkt sich das stark auf unsere Psyche aus. Vielleicht hören wir Details in der harmonischen Reihe, die besonders schön und ungewöhnlich klingen. Es entstehen Klanggebiete, die für uns wie zu einem Zuhause werden.»
1987 – The Young Gods
1991 – The Young Gods Play Kurt Weill
1992 – T.V. Sky
1995 – Only Heaven
2000 – Second Nature
2007 – Super Ready/Fragmenté
2008 – Knock on Wood
2010 – Everybody Knows
2019 – Data Mirage Tangram
2022 – The Young Gods Play Terry Riley in C
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