Wo waren Sie am Sonntag um 20 Uhr?
Der Tatort, das am längsten laufende Kriminaldrama der Welt, wird am Sonntag 50 Jahre alt. Fast die Hälfte dieser Zeit hat die Schweiz an der einzigartigen internationalen Koproduktion mitgewirkt - allerdings nicht ohne einige Wendungen und Attentate.
«Ein Schweizer Tatort und die Kritiken sind nicht vernichtend? Doch, das ist möglich.» Das Schweizer Nachrichtenportal Watson konnte seine Überraschung am 19. Oktober kaum verbergen, einen Tag nachdem die 1140. Folge im Fernsehen ausgestrahlt worden war.
Sie begann sicherlich mit einem Knall – oder vielmehr mit einer brennenden Leiche und Kämpfen zwischen jungen Demonstrierenden und der Polizei. Angesichts der jüngsten gewalttätigen Strassenproteste auf der ganzen Welt – von den Vereinigten Staaten über Hongkong bis nach Belarus – ist das Thema zwar aktuell, aber die Szenen der Ausschreitungen waren in Wirklichkeit reale Aufnahmen aus dem Zürich der Achtzigerjahre.
So beginnt diese Episode, «Züri brännt», mit den Originalaufnahmen, die mit Aufnahmen einer der neuen Ermittlerinnen auf dem Weg zum Tatort zusammengeschnitten wurden. Was verbindet die verkohlte Leiche und einen mysteriösen Schädel mit der Züri-Punk-Szene der Achtzigerjahre?
Die Medien sind immer wieder begeistert vom neuesten Tatort, aber die Kritiker hatten ihre Stifte für diese Episode noch mehr als sonst gespitzt. Es war eine neue Schweizer Stadt mit neuen Ermittlern, nachdem zuvor in Bern und Luzern gefilmt worden war.
Unschlagbares Konzept
Das Tatort-Phänomen hat in der englischsprachigen Welt keine Entsprechung. An rund 30 Sonntagen im Jahr – also mehr oder weniger alle zwei Wochen – beginnt um 20.05 Uhr im Schweizer Fernsehen (SRF) und zehn Minuten später in Deutschland und Österreich ein 90-minütiger Mordfall.
Das Einzigartige daran ist, dass die Morde in verschiedenen Städten rotieren und von verschiedenen Ermittlern aufgeklärt werden; derzeit gibt es 23 Teams. Der SRF steuert zwei Sendungen pro Jahr bei, der ORF in Österreich zwei oder drei, der Rest verteilt sich auf neun regionale Fernsehsender in Deutschland. Und dann ist da noch die Frage der Sprache – dazu kommen wir später.
Der Tatort ist die am längsten laufende Krimireihe der Welt. Anlässlich des 50-jährigen Bestehens werden die Ermittler aus München und Dortmund gemeinsam eine Doppelfolge drehen, die am 29. November und 6. Dezember gezeigt wird.
Die durchschnittlichen Zuschauerzahlen sind von rund 25 Millionen in den 1970er Jahren auf rund neun Millionen gesunken. Trotzdem ist der Tatort weiterhin das beliebteste Fernsehereignis in Deutschland. Schweizer Episoden werden in der Regel von rund sieben Millionen Deutschen gesehen (Züri brännt zog 7,45 Millionen an).
Ein ähnliches internationales Koproduktionskonzept hatte Eurocops (1988-1992), an dem sieben europäische Fernsehsender beteiligt waren.
Die ursprüngliche Titelsequenz aus dem Jahr 1970 wird noch immer verwendet, ebenso wie die Originalmusik (abgesehen von einigen subtilen Änderungen in den Jahren 1979 und 2004), die von Klaus «Das Boot» Doldinger komponiert wurde.
Wolfgang Petersen, der bei Das Boot Regie führte, führte auch sechs Mal beim Tatort Regie, darunter 1977 in einer umstrittenen Episode, in der die 15-jährige Nastassja Kinski oben ohne auftrat. Es ist nach wie vor die am zweithäufigsten gesehene Episode.
Roger Moore hatte 2002 einen Cameo-Auftritt.
Die Schweizer Episode Die Musik stirbt Zuletzt (2018) wurde in einem Take gedreht. Es war auch die Episode, die in diesem Jahr am wenigsten gesehen wurde.
«Der Tatort hat ein unschlagbares Konzept: mit Ermittlerteams aus verschiedenen Städten, die sich am Sonntagabend abwechseln», sagt Stefan Brunner, der Züri brännt mitgeschrieben hat. «Man kann die Ermittler über mehrere Jahre begleiten und mit ihnen alt werden.»
Er anerkennt die Herausforderung, wie sie sich durch Streamingdienste und ihre Krimiserien stellt, die Staffeln mit acht oder zehn Folgen umfassen. Shows wie «Die Brücke», «The Killing» und «True Detective» sind recht eigentlich Zehn-Stunden-Filme, auf die sich die Zuschauerinnen und Zuschauer stürzen können. Aber Brunner besteht darauf, dass es daneben auch Raum für mehrteilige Serien und traditionelle, in sich geschlossene Episoden gibt wie den Tatort, Columbo oder Poirot, weil die beiden Formate unterschiedliche Zuschauerbedürfnisse ansprechen.
«Sicher, man kann in einer mehrteiligen Serie tiefer in die Charaktere eintauchen. Aber man will sich nicht ständig auf so lange gedankliche Reisen begeben. Eine Serie wie Tatort ist eine Konstante: ein alter Freund, auf den man sich verlassen kann. Man trifft sich jeden Sonntag, aber man kann auch einen Sonntag überspringen, wenn man will.»
Das tun in der Tat viele Menschen, zum Beispiel im Zürcher Restaurant Piccolo Giardino, das seit Jahren öffentliche Tatort-Übertragungen veranstaltet.
‹Ungeheuerlich kühn›
Dem Umstand, dass die meisten Zuschauer glücklich darüber scheinen, dass die Morde nun in Zürich und nicht mehr in Luzern begangen werden, steht der lange Weg gegenüber, der den Tatort nach Zürich geführt hat.
Der allererste Tatort wurde vom NDR in Norddeutschland gedreht und am 29. November 1970 ausgestrahlt. Die erste österreichische Episode folgte knapp ein Jahr später. Die Idee war, dass der Tatort mehr als nur ein Krimi sein sollte: Es sollte lokale Geschichte und Lokalkolorit bieten, durch die Darstellung von Sitten, Gebräuchen und sprachlichen Eigenheiten.
In Züri brännt zum Beispiel erfahren die deutschen Zuschauerinnen und Zuschauer von den Jugendunruhen der Achtzigerjahre, von der schweizerischen Verjährungsfrist für Mord (30 Jahre), dass der Zürichberg eine Nobelgegend zum Leben ist und dass ein Kaffee mehr als 5 Franken kosten kann. Zudem hat einer der neuen Inspektoren einen französischen Akzent, der daran erinnert, dass nicht alle Schweizer Schweizerdeutsch sprechen.
Die Schweiz trat dem Tatort-Konsortium erst 1990 bei, als der Berner Detektiv Howald und sein Assistent Carlucci in der Schweizer Hauptstadt einen Fall mit zweifelhaften Waffengeschäften, dem Tod eines Beamten des Aussenministeriums und dem Tod von Howalds eigener Tochter klären mussten.
Die Episode fiel auf, nicht nur, weil es sich um die bisher teuerste Schweizer Fernsehproduktion handelte, sondern auch, weil (Spoileralarm) Howald in den Tod seiner Tochter verwickelt war und sich am Ende der Episode selbst tötete.
«Ich halte es für unverschämt kühn von den Schweizern, einen Inspektor schon in der ersten Folge als schuldig darzustellen», sagte damals ein Redakteur des österreichischen Tatorts.
Howald wurde ersetzt, und 2002 wurde der Tatort nach 12 Fällen zum letzten Mal aus Bern gesendet. Der offizielle Grund war Geld. Die deutsche öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt ARD hatte das Schweizer Fernsehen (das damals noch SF hiess) angeblich gebeten, ihre Produktion auf zwei Folgen pro Jahr zu verdoppeln. Da zog SF die Reissleine.
Gnadenmord
Doch 2010 änderten die Schweizer ihre Meinung, kehrten zum Tatortbündnis zurück und produzierten zwei Episoden pro Jahr aus dem malerischen Luzern.
Die Dinge begannen unheilvoll. Die erste Episode war ursprünglich für April 2011 geplant, wurde aber aus Qualitätsgründen vom SRF zurückgezogen. «Der Film entspricht nicht unseren Standards. Dieser Tatort lässt uns schlecht aussehen», sagte Nathalie Wappler, die damalige Kulturchefin von SRF. Sie gab dem klischeehaften Drehbuch und der ungenügenden Leistung der in der Schweiz geborenen griechisch-italienischen Schauspielerin Sofia Milos, die sechs Jahre für «CSI: Miami» gearbeitet hatte, die Schuld.
Es half auch nicht, dass einige Szenen angeblich negative Anspielungen auf die rechte Schweizerische Volkspartei (SVP) gemacht hatten, was SRF dementierte. Deshalb wurde die Episode zurückgezogen, überarbeitet, was zum Zensur-Vorwurf seitens linker Politiker führte, und schliesslich im August ausgestrahlt.
Milos wurde bereits nach einer Episode ausgebootet; das neue Luzerner Duo bearbeitete 16 Fälle, bis 2018 auch auf sie die Axt fiel. Ihre letzte Episode wurde im Oktober 2019 ausgestrahlt und erhielt allgemein negative Kritiken.
Ein «Gnadenschuss», so sah die Neue Zürcher Zeitung den Entscheid, die Luzerner Tatorts zu beenden. «Die Episoden aus Luzern schienen immer wie ein unlösbarer Problemfall», schrieb sie weiter.
«Die Schweizer Ausgabe galt als behäbig; das lag weniger am Team Stefan Gubser / Delia Mayer als an holprigen Drehbüchern und verschlafenen Plots. Die Filme legten den Fokus mehr auf die Vierwaldstättersee-Kulisse als auf die Kriminalgeschichte.»
Klischees vs. Authentizität
Es ist dieses Ungleichgewicht aus düsterem Realismus und «Willkommen in der Schweiz»-Klischees, in die Schweizer Tatorts oft geraten sind, so Charlotte Theile, eine in Deutschland aufgewachsene und heute in Zürich lebende Journalistin.
«Es ist möglich, dass deutsche Zuschauer sagen: ‹Ah, komm schon, es ist ein Tatort aus der Schweiz – ich möchte ein paar Berge sehen und ein bisschen träumen und nicht nur durch schmuddelige Strassen in Zürich gefahren werden. Das Problem ist, dass die Kritiker und die Schweizer kein Interesse an dieser Art von Film haben. Sie wollen mehr Authentizität.»
Die Einschaltquoten für das Luzerner Duo waren die schlechtesten aller Tatort-Teams der letzten Jahre. (Die Episoden, die im deutschen Münster spielen, waren die beliebtesten.) Ist das der Grund für den Neustart in Zürich?
«Das oberste Ziel ist es von nun an, spannende und aufregende Fälle auf die Leinwand zu bringen», sagte Urs Fitze, Leiter Film bei SRF, im vergangenen Jahr. «Damit wollen wir einen klaren Schlussstrich unter den Tatort in Luzern ziehen, wo es wichtig war, gesellschaftlich relevante Themen – wie Flüchtlinge oder Euthanasie – in die Geschichte einzubauen. Die Fälle werden sich in Zukunft mehr an den Figuren orientieren und damit weniger in der Realität verankert sein».
Ankunft in Zürich
Und damit nach Zürich. Theile fragt sich, warum SRF so lange brauchte, um von Luzern nach Zürich zu wechseln, «wo Gauner aus der ganzen Welt – vor allem reiche Gauner – leben».
Sie stellt fest, dass in der grössten Stadt der Schweiz auch Organisationen ansässig sind, die jeden Kriminalautor zum Sabbern bringen würden: Die FIFA, der europäische Hauptsitz von Google, Dutzende von geheimen Privatbanken, die Labors der Eidgenössischen Technischen Hochschule ETH Zürich.
Stefan Brunner sagt, die Herausforderung für Tatort-Autoren bestehe darin, die Stadt in den Hauptfiguren und Geschichten darzustellen. «Wofür steht die Stadt? Was sind ihre Höhepunkte? Was sind ihre Schattenseiten? Da Zürich wohl die reichste Tatortstadt ist, haben wir ihr das Grundthema ‹Spätkapitalismus und Klassenkampf› gegeben.»
Züri brännt wirkt auf jeden Fall filmischer als frühere Folgen, von der Ausstattung und Beleuchtung bis zu den ausladenden Drohnenaufnahmen der Stadt und des nächtlichen Opernhauses Zürich.
Das Sprachproblem
Aber obwohl sich die Redaktion und die Technologie im Laufe der Jahre sicherlich weiterentwickelt haben, hat sich an der Sprache nichts geändert. Die Schweizer Tatorts werden in Schweizerdeutsch gefilmt, was die meisten Zuschauer in Deutschland und Österreich nur schwer verstehen können.
Als Folge davon werden die Schweizer Tatorts für das deutsche und österreichische Fernsehen synchronisiert – abgesehen von den ersten zehn Minuten! Diese werden Zeile für Zeile neu gedreht, wobei die Schweizer Schauspieler Hochdeutsch sprechen – ohne dass sich die Lippen ablenkend aus dem Takt bewegen. Erst nach zehn Minuten kommt die Synchronisation, bis dahin ist das Publikum hoffentlich süchtig nach der Folge.
Dies scheint zwar ein kluger Kompromiss zu sein, aber nicht jeder Zuschauer ist ein Fan davon. Als SWI swissinfo.ch nach Züri brännt in die Social Media eintauchte, wurde in vielen Kommentaren die Vertonung kritisiert und die Originalfassung mit Untertiteln gefordert.
«Untertitelte Filme in Originalsprache werden von den Zuschauern im deutschen Fernsehen viel weniger akzeptiert», erklärt Lars Jacob von der ARD. «Deshalb werden Filme, die in der ARD in einer Fremdsprache oder mit einem schwer verständlichen Dialekt gezeigt werden, fast nie untertitelt, sondern synchronisiert.»
Theile hält die Sprache zwar für ein Problem – «es gibt viele Momente, in denen man sich in der Übersetzung verliert, was der Authentizität nicht zuträglich ist» – aber für sie gehen die Schwächen mancher Schweizer Episoden über die Sprache hinaus. «Aber das Schweizerdeutsche macht die Dinge sicher nicht einfacher.»
Der zweite Zürcher Tatort ist bereits im Kasten – beide Episoden wurden noch vor Ausbruch der Pandemie gedreht. Er soll im Frühling 2021 ausgestrahlt werden. Im Mittelpunkt des Dramas steht der Mord am Chef einer Schokoladenfabrik. Die Stifte der Kritiker werden bereits gespitzt.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Diskutieren Sie mit!