Neue Kunsthaus-Direktorin hat keine Angst vor dem Scheitern
Mit der Übernahme der künstlerischen Leitung des Kunsthaus Zürich durch die belgische Kuratorin Ann Demeester kam dieses Jahr ein frischer Wind in eine der ältesten Kulturinstitutionen der Stadt. swissinfo.ch sprach mit ihr über ihre Vision für das historische Haus.
Christoph Beckers mehr als 20-jährige Amtszeit als Direktor des Kunsthaus Zürich sollte mit einem Triumph enden: Im Oktober 2021 wurde ein riesiger Erweiterungsbau des Stararchitekten David Chipperfield eröffnet, der das Kunsthaus zum grössten Schweizer Kunstmuseum machte.
Seine letzte Ausstellung, eine Einzelpräsentation des Werks der französischen Künstlerin Niki de Saint Phalle, die derzeit noch zu sehen ist, war ein Gegengewicht zu einem Programm, in dem vor allem männliche Künstler die Aufmerksamkeit auf sich zogen.
Doch seit letztem Jahr überschatten negative Schlagzeilen das Zürcher Museum und sein Erbe. Das Kunsthaus ist eine private Institution, die von einem Verein mit 25’000 Mitgliedern getragen wird.
Denn der neue Erweiterungsbau beherbergt neben anderen prominenten Sammlungen rund 200 vorwiegend impressionistische Kunstwerke, die von der Sammlung Bührle ausgeliehen wurden.
Diese ist vorbelastet: Emil Georg Bührle war während des Zweiten Weltkriegs durch Waffenverkäufe an Deutschland reich geworden und hatte Kunstwerke gekauft, die entweder von den Nazis geraubt oder von jüdischen Besitzerinnen und Besitzern unter Zwang verkauft worden waren.
Seit der Eröffnung dieser Ausstellung steht das prestigeträchtigste und teuerste Kunstmuseum Zürichs in der Kritik, weil es die von Historikerinnen, Historikern und Fachleuten geforderten Transparenzstandards nicht erfüllt. Trotz des Skandals ist die Sammlung weiterhin zu sehen.
Diese angespannte Situation erbt die neue Direktorin. Ann Demeester kommt aus den Niederlanden nach Zürich, wo sie zuletzt Direktorin des Frans Hals Museum in Haarlem war.
Sie begann ihre Karriere im Kunstjournalismus, bevor sie sich dem Kuratieren zuwandte. Demeester ist bekannt für ihre kühnen Kuratierungen, in denen sie Kunst aus verschiedenen Epochen und Disziplinen zusammenbringt und einander gegenüberstellt.
Nach einer schrittweisen Übergabe hat Demeester am 1. Oktober 2022 offiziell die Leitung des Kunsthaus Zürich übernommen. Die Hoffnungen sind gross, dass die neue Leiterin den Ruf der Institution wieder aufpolieren wird.
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swissinfo.ch: Sie haben in den letzten Monaten an der täglichen Arbeit des Museums teilgenommen. Wie haben Sie die Institution vor Ihrem Umzug nach Zürich wahrgenommen?
Ann Demeester: Es ist ein riesiges Museum mit einer bemerkenswerten Sammlung. Aber es hat nicht die Sichtbarkeit anderer Flaggschiffe wie das Musée d’Orsay (Paris) oder die Tate Britain. Es konnte sich ein Gefühl von Abenteuer und Entdeckung bewahren.
Welche Herausforderungen stellen sich Ihnen?
Eine Herausforderung besteht darin, die riesige Sammlung zu aktivieren, die viele Jahrhunderte umspannt und mit der die Menschen weniger vertraut sind.
Die andere Herausforderung ist die Frage, wie wir sowohl ein Bilderpalast sein können – ein Palast der Bilder, in dem man Kunst bestaunen und vielleicht sogar anbeten kann –, als auch eine zeitgenössische Antwort auf eine zunehmend fliessende und komplexe Welt, in der man sich sozialen und politischen Fragen und deren Verflechtung mit der Kunst nicht entziehen kann – ob historisch oder zeitgenössisch.
Ich glaube nicht an die Trennung zwischen Geschichte und Kunstgeschichte. Die Geschichte ist in die Kunstgeschichte eingebettet; der soziale Kontext ist immer präsent, selbst in alten Meisterwerken.
Bevor das Museum geschaffen wurde, wie wir es heute kennen, gab es Kuriositätenkabinette. Diese waren eine wilde Ansammlung von heterogenen Objekten und Ideen, von Flora und Fauna, von Kunst, Radierungen und Büchern; alles drehte sich ums Staunen.
Dann kam das Museum, das eher didaktisch war und die Exponate gemäss Kategorien aus der Kunstgeschichte ordnete. Die Perspektive der Kunstschaffenden auf die Kunstgeschichte, die nicht unbedingt linear und chronologisch ist, wurde nicht berücksichtigt.
Beim Kuratieren eines Museums geht es für mich um fantasievolle Assoziationen oder Affinitäten zwischen Dingen, die nicht unbedingt in dieselbe Kategorie gehören.
Wir leben in einer vernetzten Gesellschaft. Und wenn wir relevant und zeitgemäss sein wollen, sollten wir auch Verbindungen zwischen der Kunst verschiedener Epochen der Geschichte herstellen.
Die letzten Jahre waren für das Kunsthaus turbulent. Im Vordergrund stand die Kritik an der Ausstellung und den Leihbedingungen der Sammlung Bührle. Wie geht das Museum heute mit der Provenienzfrage um?
Die Diskussion um Bührle hat viele Facetten. Die Provenienz ist eine davon, eine wichtige. Aber das Thema ist auch ein «pars pro toto», Teil einer grösseren Diskussion, wie die Schweiz mit ihrer Rolle im Zweiten Weltkrieg umgeht.
Es geht auch um die Beschaffung von Mitteln. Das ist eine grosse Frage für jedes Museum in Europa: Woher kommt unser Geld, von wem sind wir abhängig? Geld von Sackler [der Familie, die hinter einem Opioid-Skandal in den Vereinigten Staaten steckt] und BP [dem britischen multinationalen Öl- und Gasunternehmen] ist nicht mehr akzeptabel. Wie gehen wir damit ethisch um und bleiben auf der Höhe der Zeit?
Werden Darlehen oder Vermächtnisse in Zukunft transparent gehandhabt?
Verhandlungen können nicht öffentlich geführt werden, auch nicht, wenn es um Darlehen oder Vermächtnisse geht. Aber wir müssen unsere Grundsätze neu justieren. Was nehmen wir an, wann, warum und aus welchem Grund?
Diese Fragen sollte sich ein Museum ohnehin alle 20 Jahre stellen. Das ist Teil der institutionellen Hygiene. Wir müssen dies mit mehr Offenheit und Transparenz tun.
Das feministische Kollektiv Hulda Zwingli kritisiert, dass die hier ausgestellte Kunst überwiegend männlich ist. Wird sich das ändern?
Ja und nein. Das Museum hat einen gewissen Ruf, während die Realität nicht so krass ist. Wir können historische Lücken sichtbar machen, aber wir können sie nicht füllen. Ich glaube nicht, dass ich Mittel finden werde, um mehr Werke von Mary Cassatt oder Sonja Sekulas zu kaufen, zwei Künstlerinnen des letzten Jahrhunderts. Aber wir können die Zukunft ändern.
Ich habe zusammen mit einem Team immer ein Programm zusammengestellt, das ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Männern und Frauen aufweist. Vielleicht sind wir nicht immer ganz «global»: Wir sind sehr euro-amerikanisch. Das ist ein berechtigter Vorwurf an das Kunsthaus.
Können wir das ändern, und sollten wir das? Warum sollten wir im Westen die ganze Welt repräsentieren und besitzen müssen? Das ist ein gefährlicher Gedanke. Vielleicht ist das eine andere Form des kulturellen Neokolonialismus.
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Was ist die Rolle eines Kunstmuseums in der heutigen Zeit?
Es ist ein Zentrum der Neugierde. Die bildende Kunst ist anachronistisch: Sie ist zu langsam, um auf die Fluidität der heutigen Welt zu reagieren. Als Museum können wir aber die Neugierde auf allen möglichen Ebenen durch die Kunst stimulieren.
Ende der 1960er-Jahre schuf der amerikanische Konzeptkünstler James Lee Byars eine Performance («The World Question Centre»). Darin forderte er alle, die er in der Welt für wichtig hielt – intellektuell, politisch, wissenschaftlich, wirtschaftlich –, dazu auf, ihm die ihrer Meinung nach «wichtigste Frage im Moment» zu stellen. Nicht, um Antworten darauf zu geben, sondern um Fragen zu stellen.
Ein Museum sollte genau das sein. Wir sollten auch weiterhin dieser Palast sein, in dem die Kunst verehrt wird. Aber auch ein Palast, in dem wir die Kunst mit neuen Ideen und Inspirationen aufladen können. Wir sollten Fragen aus der Perspektive der Kunstschaffenden stellen. Wir sollten auch ein Parlament sein, in dem Ideen diskutiert werden.
Das grosse Dilemma besteht darin, wie man eine Mischung aus beidem schafft – nicht nur ein «entweder, oder». Wie das geht, hängt von der Diskussionskultur im jeweiligen Land ab. Wir müssen herausfinden, wie wir diese Diskussionen in Zürich miteinander kombinieren können. Dass wir es tun müssen, ist unbestritten, aber das Format ist noch unklar.
Die wichtigsten Ausstellungen zeitgenössischer Kunst im letzten Sommer, die Documenta 15 in Kassel und die Berlin Biennale, versuchten beide, gesellschaftlich relevante Räume zu sein – und waren es auch. Aber beide waren auch problematisch. So zogen sich beispielsweise einige irakische Kunstschaffende von der Berliner Ausstellung zurück, weil sie Bilder von Folterungen im öffentlichen Raum zeigten.
Man muss akzeptieren, dass der Versuch, solche Räume zu schaffen, auch scheitern kann. An der Documenta bedauere ich, dass die Medien nur auf die Diskussion über Antisemitismus fokussieren. Es ist eine wichtige, essenzielle Diskussion, daran besteht kein Zweifel.
Aber die Documenta schlug auch etwas radikal Neues in Bezug auf die kollektive Arbeitsweise vor: Bei der Kunst geht es nicht um das Kunstobjekt, sondern um den Prozess, darum, wie man zusammenarbeitet. Das ist ein Paradigmenwechsel, der versucht, Kunst inklusiv und demokratisch zu machen.
Aber die regelmässigen Besucherinnen und Besucher scheinen oft ratlos zu sein. Was wirklich demokratisch sein soll, ist in Wirklichkeit exklusiv, weil das Kunstverständnis der Menschen eher traditionell ist.
Wir sind uns daran gewöhnt, die Dinge auf die richtige Art und Weise zu tun. Aber die grösste Veränderung in unserer Denkweise besteht darin, dass wir uns erlauben, zu scheitern!
Das gängige Verständnis von einem Museum in Europa ist nicht dieser demokratische, vielstimmige Raum der Mehrdeutigkeit, des Paradoxen und der Diskussion – es ist ein Ort, den man betritt und sich Objekte ansieht, die man als Kunst identifizieren kann.
Wie führen Sie nun diese neue Agenda ein?
Man muss die Tradition zeigen und gleichzeitig kritisch hinterfragen. Wir können die Kunst nicht immer wieder aufpolieren und in ein Vakuum stellen, als hätte sie nichts mit den Problemen unserer Zeit zu tun. Ich will nicht den weniger befahrenen Weg wählen, sondern zwei Wege gleichzeitig beschreiten.
Über die Bührle-Sammlung hat der Satiriker Karpi in unserem «Switzerland sais sorry»-Format gewitzelt (auf Englisch):
Editiert von Virginie Mangin
Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub
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