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Schweizer Skiresorts vor Zersiedelung retten

Verbier von oben: Der Walliser Skiort umfasst etwa 2160 Ferienchalets. Keystone

Fiona Pià hat eine radikale Idee, wie Schweizer Skiresorts Zersiedelung und Staus begrenzen und gleichzeitig mehr Gäste unterbringen und die Landschaft schützen könnten. Um ihre Idee zu erklären, nahm sie swissinfo.ch mit auf eine Tour durch Verbier.

Wie viele Schweizer Skigebiete ist Verbier im Kanton Wallis seit seinen Anfängen in den 1950er-Jahren organisch gewachsen, Stück um Stück, aber ohne eine einheitliche Vision für urbane Gestaltung und Transport. Die Aussicht ist atemberaubend und der Ort ist selbst an einem grauen Tag im November festlich geschmückt. Obschon die Skisaison noch nicht voll im Gange ist, herrscht dichter Verkehr, der das Gehen und das Sprechen miteinander schwierig macht.

«Die Ausdehnung von Verbier umfasst etwa vier Quadratkilometer. Will man alles zu Fuss erledigen, dauert es zu lange, es ist eine Stadt, die für Autos geplant wurde», sagt Pià, eine Forscherin an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL).

Die Busse fahren auf denselben Strassen wie die Autos, und es gibt keine effiziente Alternative zum motorisierten Verkehr. Viele Leute hätten die Nase voll vom Lärm und den Mobilitätsproblemen, sagt sie weiter.

«In Verbier gab es nicht viel Planung. Die Entwicklung geschah durch den Bau von mehr und mehr individuellen Chalets, weil dies das Bild ist, das die Leute mögen und mit den Bergen in Verbindung bringen.

Das geht, wenn es sich um ein kleines Dorf handelt. Reproduziert man aber bei einer Stadt mit 30’000 Einwohnern immer wieder dieses eine Modell, kommt es zu der Zersiedelung, die man hier sieht», erklärt Pià, als sie auf die Autoschlange weist, die sich durch eine der Hauptverkehrsachsen in Verbier wälzt.

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Schweizer Chalet – Ende eines Mythos?

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Häuser und Projekte im «Schweizer Stil» sind heute meist Werke ausländischer Architekten. Die europäischen Eliten des 18. und 19. Jahrhunderts übertrugen das ländliche, traditionelle und handwerkliche Ideal auf den Bereich der Architektur. «Den Schweizer Stil gab es im Ausland schon, bevor man in der Schweiz davon wusste», schreibt der Autor in seiner Doktorarbeit. Das Chalet…

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Als über die Jahre hinweg mehr und mehr individuelle Ferienhäuser gebaut wurden – die dem traditionellen Modell des Chalets folgten – wurden viele Schweizer Skigebiete zu zersiedelten Agglomerationen, die durch überfüllte Strassen miteinander verbunden sind, die genau diese Landschaft «auffressen», welche die Urlauber geniessen möchten, die aus der ganzen Welt hierherkommen.

Und genau das ist in Verbier, wo der Schwerpunkt der Doktorarbeit von Pià liegt, ein Problem.

Bewohnte Infrastrukturen

Piàs Argument ist einfach: Verbier muss sich verabschieden vom Modell des individuellen Chalets. Stattdessen schlägt sie für die Zukunft «bewohnte Infrastrukturen» vor, in denen Unterkunft und öffentliche Dienstleistungen mit Mobilitäts- und Transportoptionen verbunden wären.

Ein solches Modell, sagt sie, würde nicht nur die mit Zersiedlung und Staus verbundenen Probleme mindern, sondern auch die natürliche Umwelt schützen sowie die wirtschaftliche Zukunft des Resorts sichern.

«Wir sind heute an einem Punkt angelangt, an dem wir über neue Transportmodelle und Verdichtung nachdenken müssen. Es ist gefährlich, mit dem Chalet-Modell weiterzufahren, weil wir das ganze Territorium aufbrauchen werden, wenn wir weitermachen wie bisher», erklärt Pià.

Wie würde ihre Idee funktionieren? Für Verbier stellt sich Pià fünf «erweiterte» Seilbahnstationen an verschiedenen Ecken des Resorts vor, die alle miteinander verbunden wären.

In diesem Computer-generierten Bild schlägt Pià fünf bewohnte Infrastrukturen um Verbiers Perimeter vor (dargestellt durch weisse horizontale Linien). Die weissen Punkte zeigen die Seilbahnlinien, welche die Infrastrukturen verbinden würden. Fiona Pià / LAMU-EPFL 2016

Diese 500 Meter langen Gebäude wären eine Kombination aus Unterkünften und Appartements, Fussgängerzonen, öffentlichem Verkehr, Einkaufen, Essen und natürlich direktem Zugang zu den Seilbahnen.

Wer Verbier besucht, könnte dann von einer der Seilbahnstationen zu Fuss zum Hotel gehen, ein Konzert oder ein Restaurant besuchen, oder dem Fussgängerpfad entlang schlendern, all dies, ohne die «bewohnte Infrastruktur» zu verlassen. Für alle längeren Distanzen, zum Beispiel zu einer Skipiste, zum Dorfzentrum oder dem in der Nähe gelegenen Dorf Le Châble, könnte man die Seilbahn benutzen. 

Dieses Schema zeigt ein Querprofil einer bewohnten Infrastruktur, mit Seilbahnstation, Parkplätzen und Unterkunft – gemäss Vorschlag von Pià. Fiona Pià / LAMU-EPFL 2016

«Was im Winter unter anderem zu Verkehrsaufkommen führt, ist, wenn die Leute zum Skifahren zu den Seilbahnen gelangen wollen. In meinem System könnte man mit den Skis direkt zu einer Seilbahnstation fahren, ohne Privatauto», sagt Pià.

Gemäss Piàs Modell würde es zum Bau der bewohnten Infrastrukturen etwa 10% der öffentlichen bebaubaren Fläche brauchen, die es in Verbier heute noch gibt; das wäre etwa sechs Mal weniger Land als es zum Bau von individuellen Chalets brauchen würde.

Dieses computergenerierte Bild zeigt, wie es in der Fussgängerzone einer bewohnten Infrastruktur aussehen könnte. Fiona Pià / LAMU-EPFL 2016

Ein «bemerkenswertes Paradox»

In der Schweiz ist man sich des Problems der Zersiedelung seit längerem bewusst. Pià argumentiert jedoch, dass die Lösung der Regierung, ein Gesetz von 2012, das den Anteil an Zweitwohnungen auf nicht mehr als 20% der Wohnungen in einer Gemeinde begrenzt, in der Tat kontraproduktiv sei.

Pià erklärt, in einem «bemerkenswerten Paradox» habe die so genannte «Lex-Weber-Initiative»Externer Link die Verstädterung als Ursache der Zersiedelung dämonisiert, dabei würden die Probleme, vor denen Orte wie Verbier stünden, in der Tat dadurch verursacht, dass zu wenig verdichtet gebaut werde.

«Es ist genau dieses Modell, das zur Zersiedelung führt und die Leute dazu bringt, ihre Autos zu benutzen», hatte Pià in einem früheren EPFL-Beitrag erklärt.

Der Bau der von ihr angeregten bewohnten Infrastrukturen würde keine Revision der Zweitwohnungs-Gesetzgebung erfordern, sagt Pià weiter. Und obschon sie ihr Modell spezifisch auf die Herausforderungen in Verbier ausrichtete, könnte es für andere Skiorte in der ganzen Schweiz angepasst werden, erklärt sie.

Eine «utopische» Vision?

Unabhängig von Effizienz- und Mobilitätsargumenten: Denkt Pià, dass die Leute davon überzeugt werden könnten, das geliebte Chalet-Modell aufzugeben – zu Gunsten von bewohnten Infrastrukturen?

«Ich denke, die Leute lieben Chalets nicht nur, weil sie ein Archetyp sind, sondern auch für das, was sie darstellen: Den Kontakt zur Natur, die Sicht auf die Berge und dass man seinen eigenen Kokon hat», sagt sie. «Aber diese Dinge wird man auch in den bewohnten Infrastrukturen haben. Es ist eine neue Art, in den Bergen zu leben, welche die Natur wirklich schützen wird.»

Pià wird ihren Plan im Januar 2017 in Verbier offiziell vorstellen. André Guinnard, Gründer einer ImmobilienagenturExterner Link in Verbier, die letztes Jahr ihr 50. Jubiläum feierte, rechnet mit einen gewissen Widerstand gegen die Idee.

«Es ist sehr schwierig, jetzt vermehrt zu verdichten. Wir müssen die lokalen Leute, die abstimmen, überzeugen. Und es braucht ein Budget, man braucht die Rechte, man muss die Vorschriften anpassen. Das ist nicht einfach und wird mindestens 15 Jahre dauern. Deshalb sage ich, dass die Idee heute utopisch ist», erklärt er.

Eloi Rossier, der Präsident der politischen Gemeinde Bagnes, zu der Verbier gehört, hat ähnliche Bedenken. Im November sagte er gegenüber der Zeitung Tribune de Genève, Piàs Projekt könnte den Behörden von Bagnes helfen, ihren Denkhorizont zu «erweitern». Die Gemeinde habe aber auch ihre eigenen Prioritäten, um die sie sich kümmern müsse, wie die Renovation bestehender Gebäude und den Bau von neuen Parkings.

«Verbier entwickelte sich in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, und das passierte mit dem Auto. Es ist schwierig, den Leuten heute zu sagen, dieses aufzugeben», sagte Rossier gegenüber der Zeitung. «Wenn wir einen Entscheid fällen, wie Veränderungen an einem Strassenabschnitt, sehen wir uns jeweils einer Lawine von Opposition gegenüber.»

Harte Zeiten

Trotz Problemen mit Überbelegung und Engpässen versuchen viele Schweizer Skiorte gleichzeitig verzweifelt, mehr Gäste anzuziehen. Nach Angaben des Dachverbands der Schweizer Seilbahnen (SBS)Externer Link lagen die Besucherzahlen in der Wintersaison 2014/2015 fast 20% tiefer als zehn Jahre früher.

Einen Grund für den Rückgang sah Seilbahnen Schweiz vor allem im sehr milden und sonnigen Winter, der nicht sehr viel Schnee brachte, eine Lage, an die sich die Schweizer Skiorte in Zukunft wegen des Klimawandels zunehmend anpassen werden müssen.

Ein weiterer Faktor für den Rückgang war der Frankenschock vom Januar 2015, mit dem abrupten Entscheid der Schweizer Nationalbank, den Franken nicht mehr an einen Euro-Mindestkurs zu koppeln. Dies führte zu einem starken Franken, was Skiferien in der Schweiz für viele Besucherinnen und Besucher aus dem Ausland zu teuer machte. Nach Angaben von Seilbahnen Schweiz lag der Preis für eintägige Skipässe in 39 Skigebieten in der Schweiz im Durchschnitt bei 58 Franken (57 Dollar).

Verbier in Zahlen

Heute gibt es in Verbier etwa 2160 Chalets, was etwa 1’350’000 Quadratmetern bebauter Fläche entspricht. Seit 2013 hat Verbier rund 3000 ständige Einwohnerinnen und Einwohner, etwa 40% der gesamten Bevölkerung der Gemeinde Bagnes, zu der Verbier gehört. Etwas mehr als die Hälfte der ständigen Bevölkerung sind Schweizerinnen und Schweizer, die übrigen 45% stammen aus anderen Ländern. Während der Hochsaison kann Verbier mehr als 30’000 Leute unterbringen.

Sind Ihnen öffentliche Verkehrsmittel und die Nähe zur Natur wichtig, wenn Sie Ferien machen? Oder gibt es andere Aspekte, denen Sie mehr Bedeutung einräumen? Ihre Meinung interessiert uns: Schreiben Sie uns in den Kommentaren!

(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)

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