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Das Schicksal der Bündner Schwabenkinder

Kinder armer Schweizer Bergbauern verdingten sich in Süddeutschland. casanova.ch

Bis Anfang des 20. Jahrhunderts zogen Kinder von armen Schweizer Bergbauern ins reiche Oberschwaben, wo sie sich für eine Saison als billige Arbeitskräfte verdingten.

Die Historikerin Loretta Seglias hat die Schwabengängerei am Beispiel der Bündner Schwabenkinder untersucht.

Jedes Jahr zogen Bündner Kinder nach Oberschwaben und verdingten sich dort bei Bauern als billige Arbeitskräfte.

«Saisonale Emigration war zu jener Zeit nichts Aussergewöhliches. Dass aber Kinder in der Fremde Arbeit suchten, war schon etwas Besonderes», meint Loretta Seglias.

Die Zürcher Historikerin hat das Schicksal der Bündner Schwabenkinder untersucht und ihre Studie jetzt als Buch («Die Schwabengänger aus Graubünden») veröffentlicht – ein kaum bekanntes Kapitel Schweizer Geschichte, das vermutlich um 1800 begann und erst bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges endete.

Reise im Winter

Eine Woche dauerte die Reise ins Schwabenland, eine Woche Hunger und Kälte. Meistens zogen sie schon anfangs Februar los, mitten im Winter noch, wenn zuhause das Essen knapp wurde.

Die Armut trieb die Bündner Kinder ins reiche Oberschwaben. Zu Fuss. Proviant hatten sie oft nur für einen Tag dabei, danach mussten sie hoffen, in einem Kloster etwas zu bekommen. Oder betteln.



Immerhin waren sie nicht allein. Sie zogen zusammen in kleinen Gruppen, zehn, zwanzig, dreissig Kinder, manche erst sechs, sieben Jahre alt, aber alle aus der gleichen Gegend und angeführt von einem älteren Kind oder einer erwachsenen Person, die den Weg schon kannte.

Im Herbst sammelte der Führer oder die Führerin die Kinder wieder ein und begleitete sie nach Hause. «Die Reise muss schon sehr schlimm gewesen sein», sagt Loretta Seglias, die verschiedene Reiseberichte gelesen hat.

Tausend Kinder pro Jahr

In den schlimmsten Jahren, wenn die Not gross war, zogen mehr als Tausend Kinder pro Jahr allein aus dem Bündner Land nach Oberschwaben, die meisten aus der Surselva. Dazu kamen Kinder aus St. Gallen und Appenzell, dem Tirol und Vorarlberg.

Sie verdingten sich auf den sogenannten Kindermärkten, die in vielen süddeutschen Städten abgehalten wurden, zum Beispiel in Friedrichshafen, Ravensburg oder Überlingen.



Diese Kindermärkte wurden sogar Thema einer Pressekampagne in den USA: «Hier werden sie in Reihen auf dem Marktplatz zur Besichtigung aufgestellt, und die Bauern betrachten sie, befühlen die Muskeln ihrer Arme und Beine und besprechen in lauter Weise die Vorzüge und die Mängel der Kleinen», schrieb das «Cincinnatier Volksblatt», das die Kindermärkte mit den Sklavenmärkten verglich.

Für ihre Arbeit bekamen die Kinder aber einen kleinen Lohn: «Doppelt Häs», was soviel hiess wie doppelte Kleidung: eine für werktags und eine für sonntags, dazu Socken, Schuhe und ein wenig Bargeld.

«Besonders begehrt waren die Rohrstiefel, hohe, glänzende Stiefel, ähnlich wie Reitstiefel», erklärt Loretta Seglias.

Sexueller Missbrauch verbreitet



Die Schuhe durften die Kinder nur am Sonntag tragen, arbeiten mussten sie barfuss. Das Stadtschultheissenamt von Friedrichshafen berichtete von einem 11-jährigen Mädchen, das vom Barfusslaufen erfrorene Zehen bekommen hatte, «sodass die Nägel von den Zehen abstanden und das Fleisch sichtbar wurde». Manche Kinder standen in frische Kuhfladen, um sich die Füsse zu wärmen.

Die Arbeit war hart, doch das war nichts Neues. «Kinderarbeit war zu jener Zeit üblich», sagt die Historikerin: «und die meisten hatten es nicht schlecht».

Auf 20 Prozent schätzt sie die schlechten Plätze, wo die Kinder geschlagen, misshandelt oder sexuell missbraucht wurden. Diese Orte sprachen sich mit der Zeit herum, denn manche Kinder gingen Jahr für Jahr wieder und gaben ihre Erfahrungen weiter. Sie warnten einander auf den Kindermärkten oder markierten die bösen Bauern sogar mit einem Kreidezeichen auf dem Rücken.

Kaum Kritik

Um rechtzeitig im März auf den Kindermärkten in Oberschwaben zu sein, verliessen die Schwabenkinder die obligatorische Schule meist zu früh, obwohl das eigentlich verboten war.

Doch die Gemeindebehörden drückten oft beide Augen zu. Das wurde bemängelt, sonst war aber wenig Kritik an der Schwabengängerei zu hören, ja, sie wurde sogar begrüsst.

Die Eltern würden entlastet, die Kinder bekämen Kleider, genug zu essen und ein wenig Geld. «Besser als Fabrikarbeit», sagten die Gegner der Industrialisierung, und von denen gab es damals viele im Bündnerland.



Dass die Schwabengängerei anfangs des 20. Jahrhundert langsam aufhörte, begründet Loretta Seglias so: «Viele arme Familien wanderten aus, der aufkommende Tourismus schuf neue Arbeitsplätze, und vor allem hatte Graubünden eine Verfassung bekommen und konnte damit die Gemeinden endlich dazu zwingen, die Gesetze einzuhalten.»

In Österreich dauerte diese Form der Kinderarbeit noch bis zum Zweiten Weltkrieg.

swissinfo, Antoinette Schwab

In den Hungerjahren Mitte des 19. Jahrhunderts zogen mehr als 1000 Kinder pro Jahr allein aus dem Bündner Land nach Oberschwaben.
Die Kinder (zwischen 6 und 14 Jahre alt) zogen meist schon im Februar los und kehrten im November zurück. Als Lohn bekamen sie Kleidung, Schuhe und ein wenig Geld.

Aus der Schweiz zogen arme Kinder als saisonale Arbeitskräfte nach Süddeutschland.

Sie verdingten sich auf den sogenannten Kindermärkten in Oberschwaben als Hütekinder, Hirtenjungen und Mägde. Viele wurden geschlagen und sexuell missbraucht.

Diese saisonale Kinderemigration hielt bis ins 20. Jahrhundert an. Kritik daran gab es kaum.

Dazu erschienen: Loretta Seglias, «Die Schwabengänger aus Graubünden», Desertina Verlag.

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