Die Willensnation Schweiz soll ihre Kinder wollen
Zum Internationalen Tag der Demokratie stellen wir zwei Menschen vor, die sich in der Schweiz für politische Teilhabe einsetzen: Der liberale FDP-Politiker Përparim Avdili glaubt an individuelle Leistung – genau darum setzt er sich für erleichterte Einbürgerung und Ausländerstimmrecht ein.
Die anderen Gäste sprechen über Achtsamkeit und Selbstverwirklichung in der Freizeit. Die Gespräche passen zum Vorplatz dieser als Café umgenutzten Fabrikhalle. Përparim Avdili hingegen nutzt in dieser Umgebung ein Vokabular, dass sich viele Politiker:innen in der Schweiz für 1.-August-Reden aufsparen.
«Die Schweiz ist eine Willensnation. Wir definieren uns nicht über eine Ethnie oder eine Sprache. Sondern über den Willen, gemeinsam nach Freiheit und Demokratie zu streben», sagt er. In der Stadt Zürich hat ein Drittel der Bevölkerung keinen Schweizer Pass. Im Schweizer Schnitt sind es über 25% – 2,24 Millionen Menschen. «Darunter sind auch viele, die nie woanders lebten als in der Schweiz», sagt Avdili. Ihnen sollte ihr Wohnland entgegenkommen, fordert er, und sie fragen: «Willst du Schweizer werden?»
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Handwerkerin der Demokratie
Die Schweiz, ein Einwanderungsland
Avdili ist Mitte 30, Lokalparlamentarier, Banker, Präsident der FDP Stadt Zürich. Er glaubt an Freiheit, an Eigentum und an individuelle Leistung. Es sind die Werte seiner Partei, und diese habe man ihm auch zuhause mitgegeben. Genau deshalb engagiere er sich so stark in migrationspolitischen Themen. Eine Leistungsgesellschaft, ist Avdili überzeugt, kann es nur geben, wenn die Gesellschaft Chancengerechtigkeit herstellt.
Die Schweiz sei ein Einwanderungsland. «Wer was anderes behauptet, kann nicht mit Fakten umgehen.» Sie habe ein volkswirtschaftliches Interesse an der Zuwanderung, weil es ihr chronisch und zunehmend an Fachkräften fehle. Aber als Willensnation habe sie auch ein ideelles Interesse, Menschen einzubinden. Denn das verhindere die Bildung von Parallelgesellschaften, das ermögliche erst die Identifikation mit dem Staat und geteilten Werten.
«Als Kind denkt man, man ist wie alle andern»
Als Kind spielte Avdili in der damals schon leerstehenden Fabrikhalle, die heute das Café ist, vor dem wir sitzen. Er ist in diesem Aussenquartier der Stadt Zürich aufgewachsen und bis heute hier geblieben. Avdilis Eltern sind in den 1980er-Jahren aus dem sozialistischen Jugoslawien eingewandert. «Als Kind begreift man lange nicht, dass man nicht ganz dabei ist. Man denkt, man ist wie alle andern.» Damit meint Avdili das Dokument, das die Zugehörigkeit zur Schweiz verbrieft: den Pass. Als es um die Lehrstellensuche ging, kursierte in der Schule die Erzählung, dass man mit dem Schweizer Bürgerrecht einfacher einen Ausbildungsplatz finde.
«Für mich war das damals komisch», schildert er. Doch er liess sich nicht abschrecken: Mit 16 stellte er sich dem Einbürgerungsverfahren; bald darauf begann er sein politisches Engagement. «Ich habe mich schon immer stark für Politik interessiert», sagt Avdili. Jetzt, als Erwachsener, als Schweizer sagt er: «Die Gesellschaft soll jenen, die hier aufgewachsen sind, ein Angebot machen.»
Wahlkampf auf Albanisch
Für Aufsehen sorgte der Politiker Përparim Avdili noch ohne Amt. Vor sieben Jahren trat er erstmals zu einer Wahl an. Sein Flyer, sein Video, ein Event richtete sich an die albanischsprachige Community: «Më voto», wählen Sie mich. Das brachte ihm Aufmerksamkeit und Kritik: Wer wählen kann, hat das Bürgerrecht. Wer das Bürgerrecht hat, kann doch die Landessprache sprechen.
Weltweit stecken Demokratien in Krisen. Seit rund 15 Jahren gibt es ein Trend zu Autoritarismus und Diktaturen.
Die Schweiz ist hingegen ein Hort der Stabilität. In der Regierung sitzen fast alle Parteien kollegial, vorgezogene Neuwahlen gibt es nie – und trotzdem können die stimmberechtigten Bürger:innen in Initiativen und Referenden so oft über Themen abstimmen wie in keinem anderen Land der Welt.
Doch die Geschichte der Schweizer Demokratie ist auch eine Geschichte darüber, wer mitbestimmen darf und wer nicht. Bei der Gründung des Bundesstaates 1848 waren nur 23% der Bevölkerung stimmberechtigt und die längste Zeit ihrer Geschichte hat die Schweizer Demokratie die Hälfte der Bevölkerung ausgeschlossen – erst seit gut 50 Jahren haben Frauen politische Rechte. Doch bis heute können viele in der Schweiz nicht mitreden.
Wer mitreden darf und wer nicht, ist politisch umstritten. Die deutliche Mehrheit der Schweizer Bevölkerung hat bisher eine Ausweitung der politischen Rechte, etwa auf niedergelassene Ausländer:innen, stets abgelehnt. So wie die JSVP-Politikerin und Juristin Demi Hablützel, die in ihrem Meinungsbeitrag schreibt: «Politische Rechte sind kein Tool zur Inklusion».
Doch der heiklen Frage, wer wie umfassend mitbestimmen darf, müssen sich Demokratien immer wieder neu stellen. Besonders wenn die liberale Demokratie global nicht mehr unwidersprochen der Normalfall ist, müssen demokratische Staaten den eigenen Ansprüchen gerecht werden.
Deshalb widmet sich SWI swissinfo.ch in dieser Serie der politischen Inklusion. Wir befassen uns mit Debatten und Diskussionen darum, wer in der Schweiz wieviel mitbestimmen darf. Wir sprechen mit Expert:innen. Wir stellen Menschen und Bewegungen vor, die sich für umfassende politische Inklusion verschiedener Minderheiten und Marginalisierten in der Schweiz einsetzen.
Übrigens gehörten auch die Auslandschweizer:innen lange zu den Ausgeschlossenen – erst seit 1992 dürfen sie wählen und abstimmen.
Es ging um Wahlwerbung unter Schweizer:innen mit albanischem Hintergrund – klar. Aber er habe der Community damit auch aufzeigen wollen, dass sie politisch mitgemeint sind. » Ich habe schon einige Menschen politisiert», sagt Avdili.
Momentan sind die politischen Rechte auch im Lokalen in einem Grossteil der Schweiz ans Bürgerrecht gebunden. Und damit nach dem Exklusionsprinzip organisiert: Die Eintrittshürden sind hoch. Wer das Bürgerrecht will, muss zehn Jahre Aufenthalt im Land, fünf Jahre in derselben Gemeinde vorweisen, tausende Franken Kosten auf sich nehmen, Prüfungen über sich ergehen lassen – und in einigen Kantonen dann auch noch – wie zur Begutachtung – vor die Gemeindeversammlung treten. Die, die schon drin sind, entscheiden. Ja oder nein.
Ausländerstimmrecht als Möglichkeit, Menschen einzubinden
Wer das Verfahren hinter sich hat, denkt nicht selten: Warum sollen es andere anders haben? Diese Überlegung sei der Grund, weshalb auch viele Eingebürgerte eine Senkung der Schwellen oder gar das Ausländerstimmrecht kritisch sehen, sagt Avdili. Er hingegen sieht das Ausländerstimmrecht auf kommunaler Ebene als Möglichkeit, Menschen in die Schweiz einzubinden.
«Wer über die Bundesverfassung bestimmen will, muss Schweizer sein. Da geht es eben um die gemeinsame Grundhaltung in diesem Land.» Die Themen auf kommunaler Ebene würden hingegen unabhängig vom Pass allen Menschen in ihrem Alltag begegnen: Ein neues Stadion, eine neue Schule oder eine Tempolimit von 30 Stundenkilometer.
Das Ausländerstimmrecht sähe er als Einladung der Schweiz an alle Mitbürger:innen, Teil der Demokratie zu werden. Teil der Gesellschaft sind sie bereits: «Sie haben Kinder, die in der Schule sind, sie sind aktiv in Vereinen. Aber auch finanziell über die Steuern leisten sie ihren Beitrag.» Nach fünf Jahren Aufenthalt am selben Wohnort, da würde Avdili das Tor zur Partizipation ansetzen, kommt bei vielen ein rechter Steuerbatzen zusammen.
«In meinem Demokratieverständnis ist der politische Prozess dann am besten, wenn möglichst viele Menschen daran teilnehmen», sagt Avdili. Er spricht sehr schnell, nun macht er eine Pause. «Eigentlich könnte das die gemeinsame Haltung aller Parteien sein.»
Keine Frage von links oder rechts?
Er selbst tritt für diese «ganz liberale» Position vor allem in seiner eigenen Partei ein. Aber linke Politiker:innen hätten auch Überzeugungsarbeit zu leisten, sagt er. Die SP und die Grünen sind für ein Ausländerstimmrecht, auf Parteiebene zumindest. Doch bei den linken Wähler:innen setzt Avdili ein Fragezeichen. Als der Kanton Zürich vor knapp zehn Jahren über ein kommunales Ausländerstimmrecht entschied, war auch die Stadt Zürich dagegen. «Und die stimmt normalerweise Rotgrün. «
Der Kanton Neuenburg kennt das Ausländerstimmrecht auf Gemeindeebene seit 1849. Dort ist die Beteiligung auf Gemeindeebene so alt und so normal wie der Schweizer Bundesstaat. Avdili wagt für Zürich keine Prognose. Er sagt: «Ich trau den Menschen zu, dass sie sich in der Frage bewegen, wenn man mit ihnen über Werte spricht.»
Noch wichtiger ist ihm, dass die Schweiz ihre Kinder willkommen heisst. «Einen Integrationsnachweis erwarte ich von jenen, die als Erwachsene einwandern. Aber nicht von Kindern, die hier aufwachsen.»
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