Der grösste Umsturz in der Geschichte der Schweizer Politik
Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht
3 Minuten
Schreibt bei SWI swissinfo.ch seit 2015 über Demokratie. Versteht diese als Toolbox zur politischen Teilhabe und als Mindset. Vorher bei Reuters, Bluewin und Tageszeitungen. Studium der Geschichte und Politikwissenschaften an der Universität Bern.
Für die einen ist es Langeweile pur, für die anderen ein Baustein ihres Erfolgs: Die Schweiz ist ein Hort der politischen Stabilität. Exakt vor 100 Jahren aber hat ein Erdbeben die Schweizer Politlandschaft erschüttert und für immer verändert: Bei den Parlamentswahlen 1919 beendeten die Stimmbürger die Vorherrschaft der radikalen Staatsgründer.
Dieser Beitrag ist Teil von #DearDemocracy, der Plattform für direkte Demokratie von swissinfo.ch. Hier äussern nebst internen auch aussenstehende Autoren ihre Ansichten. Ihre Positionen müssen sich nicht mit jener von swissinfo.ch decken.
Es floss kein Blut. Vielmehr wurde der Freisinn, der den Schweizer Bundesstaat seit dessen Gründung 1848 gewissermassen in Alleinherrschaft regierte, in die Schranken gewiesen: Per Wahlzettel. 1919, bei den Wahlen in den damals 189-köpfigen Nationalrat, die grosse Kammer des Schweizer Parlaments.
Statt Pistolen und Gewehre ebnete ein zutiefst demokratischer Akt den Weg in die Konsensdemokratie: 1918 hatten die Schweizer Stimmbürger mit Zweidrittels-Mehrheit Ja gesagt zu einer Volksinitiative, die den Umstieg auf das Verhältniswahlrecht forderte.
1917, während des Ersten Weltkriegs, war die letzte Parlamentswahl erfolgt, noch unter dem Majorzsystem. Die nächsten Wahlen hätten turnusgemäss 1920 stattfinden sollen. Aber unter dem Druck des Generalstreiks von Ende 1918 wurden die Wahlen um ein Jahr vorgezogen – einmalig in der Geschichte der Schweiz.
Die Nationalratswahlen 1917 und 1919: Die Resultate spiegeln praktisch zwei verschiedene Schweizen. Dies zeigt die folgende Grafik:
Externer Inhalt
Die Nationalratswahl von 1917 zeigt die Schweiz noch als «politischen Besitz» der Freisinnigen. Drei Jahre später katapultiert das neue Wahlverfahren die Sozialisten zur zweitstärksten Kraft, zusammen mit den Katholisch-Konservativen.
Grösste Profiteurin der Neuerung aber ist die Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei: Die Partei der Scholle, die sich 1971 neu zur Schweizerischen Volkspartei formierte, schnellt von vier auf 29 Sitze hoch.
Der Aufschwung der rechtskonservativen SVP, seit Ende der 1990er-Jahre stärkste Partei im Land, nahm also genau hier, bei den Eidgenössischen Wahlen 1919, seinen Anfang. Dank einer Volksinitiative, die vom linken Lager stammte, also vom Klassenfeind.
Majorz und Proporz
Bei Majorzwahlen siegt die Partei mit den meisten Stimmen auf der ganzen Linie, nach dem Motto «The Winner takes it all». Wer die Stimmenmehrheit erzielt, kriegt alle Sitze. Kleine Parteien sind benachteiligt.
Bei Proporzwahlen werden die Sitze im Verhältnis der Stimmen verteilt, die eine Partei erhält. Die Abbildung des Wählerwillens ist genauer und kleine Parteien haben bessere Chancen, Sitze zu erzielen.
Mehr
Mehr
Schweizer Parlamentswahlen – so funktioniert’s
Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht
Alle vier Jahre finden in der Schweiz eidgenössische Wahlen statt. Das Parlament besteht aus zwei Kammern.
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch
Mehr lesen
Mehr
Die Parlamentswahlen: wie funktionieren sie?
Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht
Das Schweizer Parlament besteht aus zwei Kammern, wie viele Parlamente in andern Ländern. Der Nationalrat ist die Volkskammer, die grosse Parlamentskammer, der Ständerat ist die Kantonskammer, die dem Senat anderswo entspricht. Im Vergleich zu den USA oder Frankreich kann das Eidgenössische Parlament zwar nicht einzelne Minister absetzen, aber es hat etwas mehr Macht, weil es…
Demokratie oder wenn das Volk doch nicht der Chef ist
Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht
Zwei Parlamentarier mit Herzblut, zwei Rechtsgelehrte ohne professorale Zurückhaltung, ein souveräner Gesprächsführer – und das Juwel als fruchtbarer Anstoss: Die Podiumsdiskussion «125 Jahre Eidgenössische Volksinitiative – eine Erfolgsgeschichte?» von Dienstagabend am Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA) bot demokratische Debattierlust und -kultur erster Güte. «So lausig wie das Parlament hat kein Initiativkomitee gearbeitet.» «Das Parlament hat…
Vom chancenlosen Misstrauenshebel zum Politik-Schreck
Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht
Vor 125 Jahren, am 5. Juli 1891, genehmigten die stimmberechtigten Männer die Revision des dritten Abschnittes der schweizerischen Bundesverfassung. Dieser enthielt als zentrale Neuerung die Volksinitiative auf Bundesebene. Mit ihr konnten 50’000 Stimmberechtigte eine Verfassungsänderung vorschlagen, über die dann sämtliche Stimmberechtigten zu befinden hatten. Nach der späten Einführung des Stimm- und Wahlrechts für Frauen wurde…
In Parlament mit flexiblen Koalitionen dürften Kompromisse schwierig sein
Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht
Am 18. Oktober konnte die Schweizerische Volkspartei (SVP) bei den eidgenössischen Wahlen triumphieren. Sie gewann 65 Nationalrats-Sitze, das sind 11 mehr als bei den letzten Wahlen. Ein Sieg, den die SVP im Ständerat nicht wiederholen konnte. Sie blieb bei fünf Sitzen. Am Sonntag, nach den letzten Ständeratswahlen, sind es vor allem die Freisinnigen (FDP.Die Liberalen),…
Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht
«Die älteste Castingshow der Schweiz» wurden die WahlenExterner Link auch schon genannt. Die Fotos von fast 3800 Kandidierenden liegen derzeit auf vielen Küchentischen. Der diesjährige Urnengang vom 18. Oktober 2015 markiert dabei ein Jubiläum: Es sind die 50. Parlamentswahlen in der Geschichte der modernen Schweiz. Wer jetzt noch nicht per Post oder Internet gewählt hat,…
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch