Demokratie oder wenn das Volk doch nicht der Chef ist
Die Volksinitiative, am 5. Juli 1891 von den Schweizer Stimmbürgern und Kantonen angenommen – eine angejahrte Jubilarin? Eine schön glänzende Perle der direkten Demokratie der Schweiz, stimmten vier Vollblut-Demokraten an einer Debatte überein. Dann flogen die Fetzen – ein Stück bester demokratischer Streitkultur aus Aarau.
Zwei Parlamentarier mit Herzblut, zwei Rechtsgelehrte ohne professorale Zurückhaltung, ein souveräner Gesprächsführer – und das Juwel als fruchtbarer Anstoss: Die Podiumsdiskussion «125 Jahre Eidgenössische Volksinitiative – eine Erfolgsgeschichte?» von Dienstagabend am Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA) bot demokratische Debattierlust und -kultur erster Güte.
Dieser Beitrag ist Teil eines Schwerpunktes zu «125 Jahre Schweizer Volksinitiative» von #DearDemocracy, der Plattform für direkte Demokratie von swissinfo.ch.
«So lausig wie das Parlament hat kein Initiativkomitee gearbeitet.»
«Das Parlament hat 150 Jahre versucht, die Volksinitiative zu torpedieren!»
«Kennen Sie die Gewaltentrennung? Kennen Sie unseren Staat?»
Ui, da liessen sie aber am Dienstagabend in Aarau gewaltig die Fetzen fliegen: die Ständeräte Hans Stöckli (Sozialdemokrat, Kanton Bern) und Thomas Minder (parteilos, Schaffhausen) sowie die beiden Rechtsprofessoren Andreas Kley, Universität Zürich, und Markus Müller von der Universität Bern.
Trotz allem Pfeffer fiel aber kein gehässiges Wort. Gesprächsleiter Andreas Glaser, Ko-Direktor des ZDA und ebenfalls Rechtsprofessor, und das Publikum verbrachten und spannend-vergnügliche und zu kurze eineinhalb Stunden.
In einem Punkt aber herrschte uneingeschränkte Einigkeit: Ja, die schweizerische Volksinitiative ist eine Erfolgsgeschichte!
Stabilitätsfaktor
«Die Volksinitiative ist ein absoluter Erfolgsfaktor für die Stabilität des Landes», sagte Thomas Minder, einziger Parteiloser im Ständerat. Die Bürger könnten so Dampf ablassen, auch wenn das Resultat Bundesbern nicht gefalle.
«Sie trug wesentlich zur Konkordanz bei und war absolut konstituierend für die Entwicklung unseres politischen und Rechtssystems», sagte Sozialdemokrat Hans Stöckli. Die Initiative zur Einführung der Proporzwahl des Nationalrats 1918 etwa habe das System massiv verändert.
«Die Volksinitiative ist für Minderheiten das Mittel, um die Politik auf den Boden der alltäglichen Probleme zu bringen», zitierte Andreas Kley eine Aussage aus dem Jahr 1890 von Theodor Wirz, einem der Väter des Volksrechts.
«Sie ist eine Perle der direkten Demokratie der Schweiz. Sie gibt uns Instrumente in die Hand, damit wir den Behörden nicht ausgeliefert sind», sagte Markus Müller. Das sei psychologisch sehr wichtig, weil beruhigend. Hier endet der harmonische Teil.
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Das böse Parlament
«Das Parlament hat 150 Jahre versucht, die Volksinitiative zu torpedieren. Es gibt einen natürlichen Gegensatz zwischen Parlament und Volk, denn das Parlament verfolgt eigene Interessen», zündete Andreas Kley die Lunte. Die Beispiele, die er anführte: Das Verbot des doppelten Ja (zu Initiative und Gegenvorschlag, erst 1988 aufgehoben) oder «der Trick der Schubladisierung» mittels Ungültigkeitserklärung. «Es ist verfassungswidrig, wenn das Parlament mit scheinrechtlichen Argumenten ein Begehren wie beispielsweise die Rheinau-Initiative versenkt.»
«Ich bin skandalisiert!», reagierte Stöckli. «Kennen Sie die die Gewaltentrennung? Kennen Sie unseren Staat?» Wahrlich provokante Fragen an einen Verfassungsrechtler. Das Parlament habe die Aufgabe, die Entscheide des Volkes umzusetzen.
Allgemeine Volksinitiative als Tiefpunkt
Doch Kley hatte noch nicht ausgeschossen: Das Parlament verletze selber das Prinzip der Einheit der Materie (eine von drei Voraussetzung für die Gültigkeit einer Initiative, die Red.). «Der Gipfel war 2003 die allgemeine Volksinitiative, die undurchführbar und verfassungswidrig war, weil damit zwei gleichlautende Artikel in der Verfassung standen.»
In der Tat stellt dieser vom Parlament eingebrachte Vorschlag einen Tiefpunkt in Sachen Volksrechtsreform dar. 2003 hatte das Schweizer Volk Ja gesagt zu einem neuen Instrument, mit dem Verfassungs- und auch Gesetzesänderungen angeregt werden sollten. 2009 mussten Regierung und Parlament das Fiasko eingestehen und den Stimmbürgern empfehlen, die allgemeine Volksinitiative in einer Abstimmung zu beerdigen. Was auch geschah. «So lausig hat kein Initiativkomitee gearbeitet!», so Kley.
Ausweg allgemeine Anregung?
Markus Müller warnte vor einer Überhöhung des Volkes. «Das Volk ist nicht der Chef, sondern ein Player unter anderen. Demokratie ist die Kunst, dem Volk jene Rolle zuzuweisen, die es wahrnehmen kann.» Nämlich als Richtungsweiser und als Kontrollinstanz.
Damit die Perle ihren Glanz nicht verliere, schlug der Staatsrechtler vor, die Volksinitiative in der heutigen Form eines konkret ausgearbeiteten Entwurfs zu streichen und durch eine allgemeine Anregung zu ersetzen. «Damit gibt das Volk die Richtung und ein strategisches Ziel vor. Statt eines Verbots zum Bau von Minaretten hiesse es beispielsweise ‹Verschont uns vor zunehmender Islamisierung der Schweiz – wir haben Angst.'»
Müller sieht seinen Vorschlag auch als Ausweg aus dem zunehmend problematischeren Spannungsfeld zwischen Rechtsstaat und Demokratie. Aktuellstes Beispiel dafür: Das Ja der Stimmbürger 2014 zur Initiative «gegen Masseneinwanderung». Wegen der geforderten Kontingentierung der Zuwanderung tangiert sie ganz stark auch die bilateralen Verträge mit der EU.
Heute, zweieinhalb Jahre später, ist immer noch völlig unklar, wie die Schweizer Regierung diese umsetzen will. Die Haltung Brüssels dagegen liegt klar auf dem Tisch: Verletzt die Schweiz mit Zuwanderungshürden den freien Personenverkehr, droht die EU mit der Annullierung der bilateralen Abkommen.
Wenn selbst Professoren überfordert sind…
Mit dem allgemeinen Antrag würden sich nicht nur problematische inhaltliche Spitzen vermeiden lassen, sondern das Begehren selber würde viel verständlicher, betonte Müller. «Die Elite erreicht das Volk nicht mehr. Aber wenn man die Menschen erreichen will, muss man den Kopf ziemlich schräg halten», sagte er. «Ich kenne Professoren, die nicht verstanden hatten, um was es bei der Service-Public-Initiative ging – Kompetenz null! Nehmen wir den Papst zum Vorbild: Klartext reden und die Menschen ernst nehmen!», lautete sein flammendes Plädoyer zu einer bürgernäheren Sprache.
Andreas Kley’s Reformvorschlag: Die Einführung eines Verfassungsgerichtes. «Aber für diese Reform bräuchte es einen richtigen Skandal wie in den 1960er-Jahren um die Mirage-Kampfflugzeuge.» Ein solcher aber scheint weit und breit nicht im Anflug.
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