Als die Schweizer den Juden dieselben Rechte einräumten
Im Januar 1866 gewährten die Schweizer Stimmbürger ihren jüdischen Mitbürgern in einer Volksabstimmung die Niederlassungsfreiheit - ein historisches Ereignis im damals noch sehr jungen und modernen Bundesstaat. Doch die direkte Demokratie ist ein zweischneidiges Schwert, denn sie kann antisemitischen Verhaltensmustern Vorschub leisten.
«Das Gesetz von 1866 erlaubte es den Juden, sich überall in der Schweiz bedingungslos und ohne Einschränkung niederzulassen. Man konnte sie nicht mehr wie eine Ware loswerden, wie es manche wollten», erklärt Johanne Gurfinkiel, Generalsekretär der Coordination Intercommunautaire Contre l’Antisémitisme et la Diffamation»(CICADExterner Link) gegenüber swissinfo.ch. Die Organisation kämpft gegen Antisemitismus und Diffamation der Juden in der Schweiz.
Ungleiche Behandlung
Bis nach Mitte des 19. Jahrhunderts hatte die jüdische Minderheit nicht die Möglichkeit, in der Schweiz den Wohnsitz frei zu wählen. Dieses Recht blieb der Schweizer Bevölkerung seit der Gründung des modernen Bundesstaates 1848 vorbehalten.
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Gesichter einer schwierigen Ankunft in der Schweiz
Die Juden durften sich lediglich in zwei Gemeinden des Kantons Aargau – in Lengnau und Endingen – niederlassen, wo sie ihre Aufenthaltsbewilligung, einen so genannten Schutzbrief, alle 16 Jahre wieder erlangen mussten. Doch sogar in diesen zwei Gemeinden hatten die Juden nicht die komplette Freiheit, denn sie durften sich weder als Bauern noch als Handwerker betätigen.
Diese ungleiche Behandlung führte zu Protesten aus Ländern, mit denen die Schweiz Niederlassungsabkommen unterzeichnet hatte, nämlich Frankreich, die Niederlande, die Vereinigten Staaten und das Vereinigte Königreich. Diese Länder konnten die Diskriminierung ihrer jüdischen Staatsbürger in der demokratischen Schweiz nicht nachvollziehen.
Angesichts dieser Kritik schlägt die Regierung 1865 eine Teilrevision der Bundesverfassung vor. Sie sieht unter anderem vor, allen Schweizer Bürgern die Niederlassungsfreiheit zu gewähren. Am 14. Januar 1866 stimmt eine – knappe – Mehrheit von 53,2% des Schweizer Stimmvolkes sowie der Stände der rechtlichen Besserstellung zu.
Die Totalrevision der Bundesverfassung von 1874 bringt den Juden acht Jahre später auch die Glaubens- und Kultusfreiheit.
Wendepunkt
Die Abstimmung vom 14.Januar 1866 war ein bedeutender Wendepunkt in der Geschichte der jüdischen Gemeinschaft in der Schweiz. Am vergangenen Wochenende fand in Bern ein offizieller Festakt zum 150-Jahr-Jubiläum der Gleichberechtigung der Schweizer Juden statt, organisiert vom Schweizerischen israelitischen GemeindebundExterner Link. Anwesend war auch der Schweizer Bundespräsident Johann Schneider-Ammann.
«Die Niederlassungsfreiheit ist fundamental, weil sie den Schweizer Juden zum ersten Mal das Gefühl gab, im politischen Gefüge der Schweiz ihren Platz gefunden zu haben. Was 1866 eingeführt wurde, wirkt bis heute nach. Seither ist die Schweiz für die Juden Heimat, sie selbst betrachten sich als vollwertige Bürger», stellt Jacques EhrenfreundExterner Link fest, Professor für moderne und zeitgenössische Geschichte der Juden und des Judentum an der Universität Lausanne.
«Das neue Gesetz bestärkte bei den Juden das Gefühl der patriotischen und nationalen Zugehörigkeit», bestätigt auch Johanne Gurfinkiel, und erachtet die Rechte, die den Juden 1866 zugestanden wurden, als entscheidend.
Glas halbleer oder halbvoll?
Die Abstimmung in der Schweiz über die Niederlassungsfreiheit der Juden ist einzigartig. «Nach meinem Kenntnisstand wurde nirgends in Europa darüber abgestimmt. Die Tür zur Staatsbürgerschaft auf der Basis einer Volksabstimmung zu öffnen, ist eine schweizerische Eigenheit», sagt Jacques Ehrenfreund.
Waren die Schweizer Stimmbürger damals also besonders vorbildlich? Johanne Gurfinkiel ist geteilter Meinung.
«Die Juden waren seit Jahrhunderten in der Schweiz ansässig, es gab keine neue Einwanderungswelle», unterstreicht er. Doch es habe Druck von aussen gebraucht, damit über die Jahrhunderte alte Präsenz und rechtliche Stellung der Juden debattiert worden sei. «Das Resultat ist sicher sehr positiv, doch man muss das Prinzip der Abstimmung über ein solches Thema an sich hinterfragen. Man kann das Glas als halbvoll oder als halbleer betrachten, doch eine gewisse Betroffenheit wirkt nach…»
Ein Paradox
Ab dem 18. Jahrhundert wurde den Juden in verschiedenen europäischen Ländern zunehmend mehr Rechte gewährt und die Gleichberechtigung in den meisten Fällen im Lauf des 19. Jahrhunderts erreicht. Doch diese Entwicklung wurde von starken antisemitischen Untertönen begleitet. In Frankreich, wo die volle Gleichberechtigung der Bürgerrechte schon früh gewährt wurde, nämlich 1791, war die Gesellschaft beispielsweise in der Affäre Dreyfus gespalten.
Auch die Schweiz war von Antisemitismus nicht gefeit, trotz der Abstimmung von 1866. Im Jahr 1893 nahmen Volk und Stände nämlich die allererste Volkinitiative gegen das Schächten an.
«In Bezug auf den Antisemitismus kann man dieses Verbot nicht falsch deuten», sagt Johanne Gurfinkiel. «Man wollte daran erinnern, dass man den Juden die Niederlassungsfreiheit gewährt hatte, doch ihre Rituale und Praktiken zu akzeptieren, stand ausser Frage. Man gewährte dieser Minderheit zwar Bürgerrechte, doch diese mussten begrenzt werden, damit man den Juden nicht das Gefühl vermittelte, sie seien letztlich doch willkommen.»
«Das Paradoxe daran ist, dass im Moment, als die Juden sich emanzipierten und Jahrhunderte lang in Europa heimisch waren, neue Formen von Ausgrenzung auftauchten», erklärt Jacques Ehrenfreund. Der eher religiös motivierte Antijudaismus machte dem Antisemitismus Platz, ein Begriff, der 1879 entsteht. Der Antisemitismus ist eher politisch motiviert und mit der Tatsache verbunden, dass die Juden gleichberechtigte Bürger geworden sind.»
Und der Lausanner Professor fährt fort: «Die Geschichte ist komplex, denn weniger als 80 Jahre nach ihrer Emanzipation wurden die Juden Opfer eines noch nie dagewesenen Genozids. Für den Historiker ist das Zusammenbringen dieser zwei so gegensätzlichen und paradoxen Elemente eine grosse Herausforderung.»
Konstante Überwachung
Für die CICAD sind antisemitische Entgleisungen in der Politik sowohl in der Schweiz wie auch anderswo immer möglich. «Je nach Situation gibt es den Reflex, die Juden daran zu erinnern, dass sie Gäste sind», beklagt Johanne Gurfinkiel. «Solche Erfahrungen waren während der Affäre um die namenlosen Vermögen in den 1990er-Jahren besonders traumatisch. Es folgte eine Phase offenen Antisemitismus, hemmungslos und grenzenlos.»
«Auch die direkte Demokratie kann natürlich zu Entgleisungen führen, fährt er fort. Das Schächten ist ein immer wiederkehrendes Thema. Vor einigen Jahren wurde auch die Beschneidung hinterfragt und es hätte auch hier zu einer Abstimmung führen können. Die direkte Demokratie ist ein Trumpf und eine Stärke der Schweiz, solange sie von demokratischen Kräften getragen wird. Doch sie kann auch eine zweischneidige Waffe sein, wenn sie in die Händen von Extremisten gelangt.»
Endingen und Lengnau
Vom 18. Jahrhundert bis 1866 waren diese zwei Aargauer Gemeinden die einzigen Orte in der Schweiz, wo sich die Juden dauerhaft niederlassen konnten.
Unter der Helvetischen Republik (1798-1803) versuchten schweizerische Reformer die Niederlassungsfreiheit der Juden zu fördern. Die Gegner der Helvetischen Republik prangerten den Einfluss der Franzosen an und machten die Emanzipation der Juden zum zentralen Thema, mit dem Resultat, dass die zwei Dörfer 1802 geplündert wurden. Diese Episode ging als Zwetschgenkrieg in die Geschichte ein.
1862 nahm das Parlament des Kantons Aargau ein Gesetz zur Emanzipation der Juden an. Doch die Gegner lancierten mit Erfolg eine Initiative, das Parlament abzusetzen. Resultat: ein neues Kantonsparlament wurde gewählt, welches das Gesetz rückgängig machte.
Mit der Niederlassungsfreiheit auf Bundesebene im Jahr 1866 verliessen die Juden zusehends die zwei Dörfer und liessen sich in der übrigen Schweiz nieder. Doch aufgrund ihrer langen Präsenz stammen viele Schweizer Juden ursprünglich aus diesen zwei Dörfern – zum Beispiel die ehemalige Bundesrätin Ruth Dreifuss (Endingen).
Gemäss neuesten DatenExterner Link des Bundesamtes für Statistik macht der Anteil der jüdischen Glaubensgemeinschaft 0,3% der Schweizer Bevölkerung aus.
(Übertragen aus dem Französischen: Christine Fuhrer)
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