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Stimmen die Leute manchmal gegen ihre eigenen Interessen?

Kampf der Generationen? Politische Idelologien scheinen bei der Frage nach einer Rentenerhöhung derzeit wichtiger zu sein. Keystone

Weshalb stimmen Leute gegen etwas, von dem sie profitieren könnten – oder zugunsten von etwas, für das sie bezahlen werden müssen, ohne aber davon profitieren zu können? Eine Volksinitiative über die Erhöhung der AHV-Altersrente um 10% hat in letzter Zeit Fragen aufkommen lassen über die Rolle der persönlichen und nationalen Interessen im Rahmen der direkten Demokratie.

In den letzten Jahren gab es verschiedene Initiativen und Referenden, bei denen Schweizer und Schweizerinnen scheinbar gegen ihre eigenen Interessen stimmten, indem sie zum Beispiel ein tieferes Rentenalter, mehr Ferien oder ein bedingungsloses Grundeinkommen ablehnten. Ausländische Medien, die es kaum glauben konnten, hatten im Zusammenhang mit der Ablehnung der Forderung nach mehr Ferien berichtet, als ob Truthähne für Weihnachten gestimmt hätten.

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Erstaunliche Ablehnungen an der Urne

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Das Stimmvolk hat in den letzten 170 Jahren zahlreiche Vorlagen abgelehnt, obwohl diese auf den ersten Blick seinen Interessen dienen sollten.

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Die Initiative vom 25. September für eine Erhöhung der Renten der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) könnte den letzten Umfragen zufolge ein weiteres Beispiel einer Idee werden, die vom Stimmvolk abgelehnt wird, obschon es auf den ersten Blick aussieht, dass dieses von der Initiative profitieren könnte.

Kommt es tatsächlich zu einer Ablehnung, dürfte dies wahrscheinlich eher an den älteren Leuten liegen, die tendenziell konservativer sind als jüngere und sich gegen einen Wandel und Ausbau der Altersvorsorge ausgesprochen haben dürften. Noch wichtiger ist jedoch: Ältere Leute gehen tatsächlich abstimmen.

«Man sieht das überall. Ist die Stimmbeteiligung niedrig, ist es häufig so, dass junge Menschen sich weniger stark beteiligten als ältere. Oft ist das damit verbunden, dass sie in ihrem Lebenszyklus an einem anderen Punkt stehen», erklärte Georg LutzExterner Link, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Lausanne.

«Junge Leute haben in der Regel oft noch kein Einkommen – vielleicht sind sie erst vor kurzem von zu Hause ausgezogen, haben sich noch nicht fest etabliert, haben kein Haus gekauft, haben keine Kinder, solche Dinge. Das alles erklärt auch, wieso sie allgemein weniger stabil in die Gesellschaft integriert sind, und sich als Konsequenz davon oft auch nicht allzu sehr um Politik kümmern, verglichen mit anderen Dingen in ihrem Leben.»

Das hatte sich auch bei der Brexit-Abstimmung im Juni deutlich gezeigt, als viele junge Menschen in Grossbritannien, von denen die meisten in der EU bleiben wolltenExterner Link, sich ins eigene Fleisch schnitten, weil sie es nicht für nötig gehalten hatten, ihre Stimme abzugeben.

«Was weniger klar ist, ist, wie konservativ ältere Leute wirklich sind», sagte Lutz gegenüber swissinfo.ch. «Wir wissen, dass junge Leute bei gewissen Themen leicht liberaler sein mögen, doch wenn man schaut, auf welche Partei die Leute setzen, sieht man, dass ebenso viele junge Leute für die [rechtskonservative] Schweizerische Volkspartei (SVP) stimmen wie ältere. Da gibt es keine systematischen Unterschiede. Man muss von Fall zu Fall schauen, wie etwas die Interessen der Menschen betrifft.»

Unentschiedene Rentner

In der Frage der Rentenerhöhung gibt es eine allgemeine Kluft zwischen links und rechts sowie zwischen Jung und Alt (Linke und Ältere sind eher dafür).

Abgesehen davon sind die Ansichten innerhalb der Generationen bei weitem nicht einmütig; swissinfo.ch kontaktierte drei Organisationen, welche die Interessen von Menschen im Rentenalter vertreten: Der Schweizerische Verband für Seniorenfragen sprach sich gegen die Initiative aus, der Schweizerische Seniorenrat dafür und Pro Senectute gab «keine Abstimmungsempfehlung» heraus. 

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Ruhestand in der Schweiz

Ausländer:innen, die ihren Lebensabend in der Schweiz verbringen möchten, müssen über erhebliche finanzielle Mittel verfügen.

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«Geld muss man zuerst haben, bevor man es ausgeben kann; und die Initiative sagt nichts über die Finanzierung», erklärte Ueli Brügger, Geschäftsführer des Verbands für Seniorenfragen.

«Viele Leute, die eine Pension erhalten, sind nicht auf eine Erhöhung der AHV-Rente angewiesen. Die Wirtschaft würde erneut belastet mit Lohnnebenkosten. Der demografische Wandel bedeutet, dass das Defizit [der AHV] weiter steigen und das Loch in der [AHV] grösser und grösser werden wird, weil die Babyboomer ins Rentenalter kommen.»

Der Schweizerische Seniorenrat, andererseits, hielt in einer Erklärung fest, eine Mehrheit seiner Delegierten habe mangels «fehlender echter Alternativen» beschlossen, «diese sehr konkrete Initiative zu unterstützen, die den Rentnern dieses Landes einen sorgenfreien Ruhestand ermöglichen soll. Die Initiative möchte mit einer einfachen und schnell umsetzbaren Lösung dem Rentenproblem entgegenwirken und die älteste, solideste und solidarischste Säule unserer Altersvorsorge stärken».

Politische Überzeugungen

Damit die Initiative scheitert, müsste ein beträchtlicher Teil der älteren Bürger und Bürgerinnen dagegen stimmen, ihre AHV-Renten um 10% zu erhöhen. Anders gesagt, wägen sie ihre politische Überzeugung und ihren persönlichen Nutzen gegeneinander ab, müsste in diesem Fall die Überzeugung den Ausschlag geben.

«Es ist nicht so sehr das Alter, sondern vielmehr die politische Ausrichtung, die erklärt, ob jemand für oder gegen einen bestimmten Vorschlag sein wird. Parteilinie und allgemeine ideologische Ausrichtung erklären das Stimmverhalten viel besser als die Frage, ob jemand gut gestellt ist oder nicht», sagte Lutz weiter.

«Das sieht man unter älteren Leuten – besonders, wenn jemand eine liberale Weltsicht und ein hohes Einkommen hat, und wenn 10% mehr AHV-Rente keinen grossen Unterschied ausmachen werden.» Es gebe zudem auch junge Leute, die für die Rentenerhöhung stimmen würden.

Aber wohl kaum viele. Zwar befürworten die linken Jungsozialistinnen und Jungsozialisten (JUSOExterner Link) und die Jungen GrünenExterner Link die Initiative, doch alle anderen Jungparteien sind dagegen.

In der Tat taten sich sechs Jungparteien aus dem bürgerlichen und rechten politischen Spektrum zusammen und bekämpfen die Initiative mit einem Komitee unter dem Slogan «Rote Karte für den Rentenbeschiss». Das Volksbegehren sei «unfair, unsolidarisch [gegenüber nachfolgenden Generationen] und nicht nachhaltig».

Die Initiative nütze «vor allem den gut situierten Rentnern, führt aber gleichzeitig zu einem milliardenschweren Schuldenberg. Eine Rechnung deren Begleichung den nachfolgenden Generationen aufgebürdet wird», heisst es in einer ErklärungExterner Link des Komitees der sechs Jungparteien.

JUSO-Präsidentin Tamara Funiciello weist den Vorwurf zurück, die Abstimmungsempfehlung der JUSO richte sich gegen die Interessen der nachfolgenden Generationen.»Sicher nicht! Die Initiative ist der billigste und sicherste aller Rentenpläne.

Nirgendwo sonst erhalten Menschen mit niedrigem und mittlerem Einkommen so viel in Rentenbeträgen ausbezahlt für das Geld, das sie einzahlen. Und das gilt für Junge und Alte», sagte sie gegenüber swissinfo.ch.

Wer wird dafür bezahlen?

Ausländische Medien berichten oft in einem leicht spöttischen Ton über Abstimmungen in der Schweiz: «Free money? No thanks, say Swiss voters» (Gratis Geld? Nein Danke, sagen Schweizer Stimmende) lautete diesen Sommer eine SchlagzeileExterner Link der Washington Post zur Ablehnung der Initiative für ein bedingungsloses Grundeinkommen. Inwieweit sind solch oberflächlich scheinbar überraschende Resultate eine Konsequenz des einzigartigen Systems der direkten Demokratie der Schweiz?

«Ich bin nicht sicher, ob dies nicht auch in anderen Ländern der Fall sein könnte», sagte Lutz. «Ich denke, dass zwei Dinge geschehen: Erstens denken Leute nicht nur an sich selbst, sie denken auch darüber nach, was im Interesse des Landes ist. Gelingt es einer Kampagne zum Beispiel, das Argument ‹dieser Vorschlag schadet der Wirtschaft› mit Erfolg überzeugend darzulegen, werden viele Leute dagegen stimmen, unabhängig von ihrer ursprünglichen persönlichen Ansicht», sagte der Politikwissenschaftler.

«Ein anderes interessantes Phänomen ist, dass die allgemeine Bevölkerung oft fiskalisch konservativer ist als Politiker. Politiker nutzen für ihre Kampagnen Versprechen, die sie dann erfüllen müssten, und die sich oft als sehr kostspielig herausstellen.» Stimmberechtigte hingegen würden zu Gedanken tendieren wie ‹Ok, vielleicht erhalte ich etwas, aber wer wird dafür bezahlen?›

Leute würden oft für die Interessen der Wirtschaft und gegen Umverteilung stimmen, «denn wenn etwas umverteilt wird, muss immer jemand dafür bezahlen», sagte Lutz weiter.

(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)

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