Alain Berset ist gewählt: Das ist der Schweizer, der bald an der Spitze des Europarats steht
Die Organisation, die als "Europas Gewissen" bezeichnet wird, hat am 25. Juni den ehemaligen Schweizer Innenminister Alain Berset zum neuen Generalsekretär gewählt. Wer ist Alain Berset?
Berset: ein dynamischer Politiker, der das Rampenlicht sucht
Gegen Ende seiner 12-jährigen Regierungszeit war Alain Berset eines der bekanntesten Gesichter der Schweiz. Als Gesundheitsminister während der Coronavirus-Pandemie war der 52-jährige Sozialdemokrat aus der Romandie omnipräsent.
Mit seinem Charisma wurde er in der Krise zum Star ‒ sein Gespür für Sprüche brachte ihn auf T-ShirtsExterner Link und in SongsExterner Link, machte ihn aber auch zur bevorzugten Zielscheibe der Covid-Proteste.
Ob sich sein Vermächtnis auf diese Covid-Rolle beschränken wird, bleibt abzuwarten. Bersets Gesamtbilanz als Innenminister ist eher durchwachsen. Vor allem, was die Bemühungen um eine Reform des Gesundheits- und Rentensystems angeht.
Die letzten Jahre seiner Amtszeit waren auch von Skandalen geprägt: Während eine Erpressungsaffäre und eine Vorliebe für die Amateurfliegerei die Medien erfreuten, lösten wiederkehrende Indiskretionen während der Pandemie eine parlamentarische Untersuchung aus ‒ ohne konkrete Folgen für Berset, der mit einem «blauen Auge» davonkam, so beschieb es das Schweizer Radio SRF.
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Generalsekretär: ein Amt mit Handlungsspielraum
Nach seinem Ausscheiden aus der Regierung Ende 2023 hat der umtriebige Freiburger insgesamt zehn Tage gewartet, bevor er sein nächstes Ziel ankündigte: den Posten des Generalsekretärs des Europarats.
Das in Strassburg ansässige Gremium ‒ nicht zu verwechseln mit der Europäischen Union (EU), der die Schweiz nicht angehört ‒ ist eine internationale Organisation mit 46 Mitgliedsstaaten, die 1949 zur Förderung und zum Schutz von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten gegründet wurde. Der ehemalige deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer bezeichnete den Rat als «das Gewissen Europas».
Was die Rolle des Generalsekretärs angeht, bleibt der Europarat vage: Er oder sie «trägt die Gesamtverantwortung für das strategische Management der Organisation», schreibtExterner Link er.
Im Minimum bedeutet dies, dass er:sie das Sekretariat führt und die Verbindung zwischen dem MinisterkomiteeExterner Link und der Parlamentarischen VersammlungExterner Link hält.
Doch die Rolle kann auch politischer werden, meint Anca Ailincai, Professorin für öffentliches Recht an der Universität Grenoble-Alpes und Mitglied des Institut Universitaire de France: «Je nach Persönlichkeit, d.h. mehr oder weniger energischem Charakter, kann der Generalsekretär die Agenda vorantreiben», sagt sie. Er hat keine Entscheidungsbefugnis, aber ein «Vorschlagsrecht» für Initiativen.
Die scheidende Generalsekretärin, Marija Pejcinovic Buric aus Kroatien, war laut Ailincai eher proaktiv. Ein Beispiel dafür war ihre ReaktionExterner Link auf ein polnisches Gerichtsurteil, das die Europäische Menschenrechtskonvention untergraben hatte.
Burics Amtszeit wurde jedoch durch Covid-19 und den Krieg in der Ukraine beeinträchtigt. Von den anderen ehemaligen Amtsinhaber:innen hebt Ailincai Catherine Lalumière (1989-1994) hervor: Sie war nicht nur die erste Frau in diesem Amt, sondern amtierte auch, als der Rat nach dem Kalten Krieg begann, die osteuropäischen Länder zu integrieren, ein Wendepunkt.
Insgesamt haben Frankreich und Österreich von den 14 Generalsekretär:innen seit 1949 die meisten gestellt (jeweils drei). Die Schweiz, die dem Rat seit 1963 angehört, hatte noch nie eine:n Generalsekretär:in in dieser Funktion.
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Europarat: Es stehen harte Zeiten bevor
Berset wird nun eine Menge zu tun haben. Denn der Europarat befindet sich in einer schwierigen Phase.
Der russische Angriff auf die Ukraine hat dazu geführt, dass ein Mitgliedstaat in das Hoheitsgebiet eines anderen eingedrungen ist, eine heikle Situation für eine rechtsbasierte Organisation.
Der 1959 vom Europarat geschaffene Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) tut sich mitunter schwer, Urteile durchzusetzen, selbst in Ländern wie der Schweiz, wo das Schweizer Parlament ein kürzlich ergangenes Urteil zur Klimapolitik offen abgelehnt hat.
Ailincai sieht die Perspektiven nuanciert. Was den EGMR betreffe, dem ihrer Meinung nach im Vergleich zum Rest des Rates zu viel Aufmerksamkeit geschenkt werde, so würden die meisten Urteile umgesetzt, obwohl es in den letzten Jahren Widerstand gegen bestimmte Urteile gab.
Und was die geopolitische Seite betrifft, so habe der Rat auf den Krieg in der Ukraine «schnell und entschieden» reagiert: Er hat Russland als Mitglied ausgeschlossen, und auf einem der seltenen Gipfel in Reykjavik im vergangenen Jahr beschlossen die Mitglieder eine ebenso seltene Budgeterhöhung sowie ein neues Register für Kriegsschäden in der Ukraine.
Allerdings, so Ailincai, endete der Gipfel ohne die Art von «folgenschweren Entscheidungen», wie sie nach einigen früheren Treffen vorlagen. Letztlich befinde sich der Europarat angesichts der Erosion demokratischer Werte in einem «entscheidenden Moment» seiner Geschichte, bilanziert sie.
Ein Dreierrennen, mit Berset als Sieger?
Der Generalsekretär wird von der Parlamentarischen Versammlung des Rates gewählt, einer heterogenen Gruppe von 306 nationalen Abgeordneten aus den 46 Mitgliedsstaaten.
Die Schweizer Medien waren im Vorfeld zuversichtlich, dass Berset der Coup gelingt: Le Temps bezeichnete Berset als «Favorit», während die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) seine «guten Chancen» und sein «grosses Netzwerk» hervorhob, das er in den letzten Monaten mit Begeisterung genutzt haben soll, um auf dem ganzen Kontinent um Unterstützung zu werben.
Der Schweizer hatte auch einige Vorteile gegenüber seinen Konkurrenten. Er hat ein stärkeres Profil als der estnische Ex-Kulturminister Indrek Saar und ist jünger als der 65-jährige Didier Reynders (der 2019 ebenfalls für das Amt kandidierte, bevor er EU-Justizkommissar in Belgien wurde).
Berset war auch zweimal als rotierender Präsident in Bern tätig; im föderalen System der Schweiz ist dies nicht genau dasselbeExterner Link wie ein «Staatsoberhaupt», aber es impliziert Exekutiverfahrung auf höchster Ebene. Es ist keine Überraschung, dass seine Einsätze als «Präsident der Schweizerischen Eidgenossenschaft» ganz oben in seinem Strassburger LebenslaufExterner Link standen.
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Editiert von Mark Livingston/sb, aus dem Englischen übertragen von Marc Leutenegger
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