Amal Mekki: Meine Auseinandersetzung mit Tunesiens Behörden und der Preis der Wahrheit
Als unsere Reporterin Amal Mekki 2018 einen rechtlichen Sieg gegen das tunesische Innenministerium erlangt hat, war sie optimistisch für das Öffentlichkeitsprinzip in ihrem Land. Als SWI swissinfo.ch-Journalistin hat sie von der Schweiz aus den Eindruck, dass ein hoffnungsvoller Entscheid nicht die Realität verändert.
Als ich das tunesische Innenministerium an dem Tag betrat, fragte ich einen Polizisten: «Ich bin Journalistin und ich bin hier, um einen Recht-auf-Informationen-Antrag zu stellen. Wem soll ich ihn geben?» Die Reaktion des Polizisten sprach Bände. Dieses neue Recht, gesetzlich verankert im März 2016, hatte bis dahin kein:e Journalist:in genutzt. Der Polizist lachte und rief seinen Kollegen spottend zu: «Das müsst ihr hören, sie spricht von ‹Recht auf Information›! Was für ein Zugang? Was für eine Information? Ha!»
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Hier erzählen unsere Journalist:innen von Angriffen auf die Pressefreiheit
Das war im Juli 2018. Im Oktober desselben Jahres wurde ich die erste tunesische Journalistin, die einen Recht-auf-Information-Fall gegen einen Minister gewonnen hat – und nicht gegen irgendeinen, sondern gegen den Innenminister. Die Zugang-zu-Informations-Behörde, die über gerichtliche Befugnisse verfügt, entschied in meinem Sinn.
An diesem Juli-Tag den Antrag beim Ministerium zu stellen, war Teil der «Konfrontationsphase» einer investigativen RechercheExterner Link, an der ich monatelang gearbeitet hatte. Es ging darum, wie das Innenministerium administrative Grenzkontrollmassnahmen nutzte, um ohne Rechtsentscheid etwa 100’000 Tunesier:innen vom Reisen abzuhalten – gemäss Zahlen von Rechtsorganisationen.
Das Recht auf Informationen
Während mehreren Monaten bin ich in verschiedene tunesische Gouvernements gereist, habe mit über 35 von den Massnahmen Betroffenen und Anwält:innen, Richter:innen und zivilgesellschaftlichen Aktivist:innen gesprochen. In elf Fällen habe ich dokumentiert, wie das Recht auf Bewegungsfreiheit verletzt worden ist.
Im Bewusstsein, dass das Thema heikel ist und dass sich noch keine anderen tunesischen Journalist:innen das Recht-auf-Informations-Gesetz berufen haben, verlangte ich die Statistiken im Zusammenhang mit der Grenzmassnahme «S17» und deren regionaler Verbreitung. Das tat ich mit Bezug auf das neue Gesetz.
Ein Angestellter des Ministeriums hat an dem Tag meinen Antrag erhalten. Ich ging nach Hause, ohne vom Sturm zu wissen, der sich bereits zusammenbraute. Ich wartete die Deadline meines Antrags ab, bevor ich meine Recherche veröffentlichen wollte. Als innert der Frist keine Antwort kam, klagte ich gegen das Ministerium bei der Behörde für Zugang zu Informationen.
Die Veröffentlichung der Recherche am 24. Oktober 2018 löste enorme Reaktionen auf den sozialen Medien, in der Presse und auf der offiziellen Ebene aus. Dass Zehntausende Tunesier:innen um ihr Recht auf Bewegungsfreiheit gebracht worden sind, war für Wochen das Hauptthema im Radio und Fernsehen. Verschiedene internationale und private tunesische Medien haben mich eingeladen, um über die Recherche zu sprechen. Aber die Mainstream-Medien haben mich komplett ignoriert. Freund:innen und Kolleg:innen schickten mir Links zu Programmen der öffentlichen Medien, die meine Recherche behandelten, ohne mich einzuladen oder meinen Namen zu erwähnen.
Im November kam es zu einer neuen Entwicklung. Der damalige Innenminister erkannte unter der Parlamentskuppel die Notwendigkeit zu handeln an. Unter anderem entschied er die sofortige Einstellung der Grenzmassnahme «S17». Dies bezeichnete er als «Forderung der Öffentlichkeit». In den kommenden Monaten und Jahren ist die Massnahme aufgehoben worden.
Die Geschichte geht weiter…
Dies war aber nicht die einzige Reaktion des Ministeriums auf die Recherche. Später erfuhr ich, dass es gegen den Entscheid der Recht-auf-Informations-Behörde vor das Administrationsgericht gegangen ist. Bis heute weiss ich nicht, was dieses Gericht entschieden hat.
Womöglich hat es nicht entschieden, um einen peinlichen Eindruck abzuwenden. Denn ich habe eine Beschwerde gegen das Gericht eingereicht, weil es mir im Rahmen derselben Recherche keine Informationen zur Verfügung stellte. Vielleicht hat das Gericht entschieden, aber mich darüber nicht informiert. Womöglich probierte es sogar mich zu informieren – aber ihre Nachrichten und Briefe gingen verloren!
Seit der Veröffentlichung meiner «S17»-Geschichte antwortete das Innenministerium nicht mehr auf meine Anfragen für Informationen oder Interviews. Angesichts dessen schrieb ich ihnen im folgenden Jahr, dass Artikel 31 der tunesischen Verfassung die Pressefreiheit und den Zugang zu Informationen garantiert.
Obwohl ich damals wegen meiner «Dreistigkeit» wohl auf einer Schwarzen Liste gelandet bin, bleibt meine Situation besser als jene von vielen Kolleg:innen in Tunesien heute. Die meisten Menschenrechtsberichte zum Land weisen auf einen Verlust von Pressefreiheit hin.
Vielleicht war der Entscheid der Recht-auf-Informations-Behörde die Basis für eine Rechtsdoktrin in Tunesien, die Journalist:innen den Zugang zu Information ermöglicht. Doch wenn ich nun den Zustand des tunesischen Journalismus aus der Ferne beobachte, kann ich nur die «vorausschauende Vision» des spottenden Polizisten anerkennen, der einst sarkastisch fragte: «Was für ein Zugang, was für eine Information? Ha!»
Editiert und aus dem Englischen übertragen von Benjamin von Wyl
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