«Politiker sollten keine Angst vor der Macht des Volkes haben»
Andreas Gross ist als Spezialist für direkte Demokratie einzigartig: Als basisdemokratischer Aktivist lancierte er Volksinitiativen, organisierte Kampagnen, sass in lokalen, nationalen und europäischen Parlamenten, er gehört zu den erfahrensten Wahlbeobachtern weltweit und forscht und publiziert unablässig zum Thema Macht des Volkes.
Andreas GrossExterner Link und die partizipatorische Demokratie: Der 63-jährige Politikwissenschaftler und Politiker blickt auf vier schaffensreiche Jahrzehnte und eine riesige Sammlung von Essays, Interviews, Aufsätzen, Analysen und Reden zurück. Mit dem Auftritt vor der UNO-Generalversammlung 2002 in New York als Höhepunkt.
Dieser Beitrag ist Teil von #DearDemocracy, der Plattform für direkte Demokratie von swissinfo.ch
Das finden Sie im Beitrag: Andreas Gross, einer der grössten Demokratie-Spezialisten weltweit, über die drei grössten Dos und dont’s der direkten Demokratie Schweiz.
Dieses Schaffen und WirkenExterner Link hat Gross nun in seinem neuen Buch «Die unvollendete Direkte Demokratie»Externer Link festgehalten. Für swissinfo.ch die Gelegenheit, ihn nach den drei grössten Vorzügen und Schwächen der Demokratie Schweiz zu fragen.
Gross vergleicht die direkte Demokratie gerne mit einem Puzzle – sie kann durchaus ein «Gesamtkunstwerk» sein. Das faszinierende, aber heikle daran sei, dass die einzelnen Teile «fliessend» seien. Deshalb sei es praktisch unmöglich, ein stabiles und perfektes System von direkter Demokratie zu erreichen.
Die Fixsterne….
Die drei wichtigsten Elemente der Demokratie «Made in Switzerland», die er anderen Ländern zur Nachahmung empfiehlt:
«Politiker sollten erstens keine Angst haben, Macht mit dem Volk zu teilen, denn es gibt keine wichtigen Fragen, welche die Bürgerinnen und Bürger nicht verstehen können. Alle können lernen, und Lernen ist eines der wichtigsten Nebenprodukte der direkten Demokratie.»
«Politische Macht kann auch auf die verschiedenen Ebenen eines föderalistischen europäischen Staates aufgeteilt werden – der nationalen, regionalen und kommunalen Ebene. In der Schweiz bedeutet diese Machtteilung, dass es die Bürger sind, die über Steuern bestimmen und nicht eine zentrale Regierung. Für viele Menschen in Europa ist das weit weg von ihrer Realität. Aber die Europäische Union täte gut daran, mehr direktdemokratische Elemente einzuführen.»
«Die Erfahrung der Schweiz zeigt, dass moderne Bürger die Instrumente der direkten Demokratie schätzen – das Recht, jederzeit Vorschläge zu praktisch jedem Thema machen und so die Verfassung oder ein Gesetz ändern zu können. Dies ist Lektion oder Ermutigung Nummer 2.»
«Ich habe in den letzten 40 Jahren in 65 Ländern mit den Menschen über Bürgerbeteiligung diskutiert und an über 1100 Debatten teilgenommen. Nie habe ich jemanden getroffen, der die Idee nicht gut fand, politische Ideen vorschlagen zu können.»
«Ob Bürger ihre direktdemokratischen Rechte weise nutzen? Es ist nicht an uns, darüber zu entscheiden. Zur Demokratie gehört, dass man verschiedene Ansichten darüber haben kann, was weise ist und wie ein weiser Entscheid aussieht. Doch fundamental ist, dass Menschen ihre unterschiedlichen Ansichten direkt zum Ausdruck bringen können in einem demokratischen Staat und wirklich eine Stimme haben.»
«Drittens: Instrumente der politischen Beteiligung müssen bürgerfreundlich sein. Die Gestaltung definiert die Qualität der direkten Demokratie. Die Hürden, um eine landesweite Abstimmung zu bewirken, müssen niedrig sein. In der Schweiz braucht es nur rund 2% der Stimmbürger, um eine Verfassungsänderung zu fordern. Und nur rund 1%, um ein vom Parlament verabschiedetes Gesetz an der Urne zu bekämpfen.»
Das Buch
«Die unvollendete Direkte Demokratie», auf Deutsch erschienen, ist die Sammlung der Essays von Andreas Gross über partizipatorische Demokratie in den letzten 30 Jahren.
Der 390 Seiten starke Band vereinigt historische Analysen, internationale Vergleiche, ein Jahresverzeichnis der Entscheide in der direkten Demokratie der Schweiz sowie Interviews und seine Rede 2002 vor der UNO-Generalversammlung in New York.
Eine französische Übersetzung ist geplant.
«Initianten müssen auch genügend Zeit haben, die erforderliche Anzahl Unterschriften zusammen zu bringen. In der Schweiz sind dies 18 Monate (Volksinitiative) resp. 100 Tage (Gesetzesreferendum). In einigen Ländern sind die Fristen viel kürzer, so dass manchmal nur Monate liegen zwischen Unterschriftensammlung und Abstimmung.»
«Initianten müssen den öffentlichen Raum, wo sie sich an Bürger wenden, frei wählen können. Niemand sollte auf die Polizeiwache gehen müssen, um eine Initiative zu unterschreiben.
Schliesslich ist die öffentliche Debatte die Seele der direkten Demokratie. Die Beteiligung darf nicht Kriterium sein, das über die Gültigkeit oder Ungültigkeit entscheidet, wie beispielsweise in Italien. Auf den Fussball übertragen, bedeutet ein System mit einem Quorum, also einer Mindestbeteiligung, dass ein Team, dessen Spieler ein schlimmes Foul beging, mit einem Tor belohnt wird anstatt dass der Täter vom Platz fliegt.
… und die No-Gos
Andreas Gross ist ein Bewunderer des Fussballs und Fan des FC Basel – dem Aushängeschild der Super League, der höchsten Schweizer Spielklasse – aus der Stadt, in der er aufwuchs. Doch von der Hatz um den Ball auf dem grünen Rasen wieder zurück aufs Feld der direkten Demokratie der Schweiz resp. deren drei grössten Schwächen:
Andreas Gross
1952 in Japan geboren, wo er die ersten sieben Lebensjahre verbrachte. Danach Übersiedelung in die Schweiz. Er ist ein international führender Experte in direkter Demokratie, Autor und Forscher.
Nach dem Studium der Politikwissenschaften stieg er in die Politik ein und hielt Vorlesungen in der Schweiz und im Ausland. Der Sozialdemokrat war Mitglied des Schweizer Parlaments von 1991 bis 2015 und vertrat die Schweiz während 20 Jahren im Europarat. Dort war er acht Jahre Präsident der sozialdemokratischen Fraktion.
Gross war einer der Köpfe der Initiative zur Abschaffung der Schweizer Armee, die auch international grosse Beachtung fand und 1989 abgelehnt wurde. Er war auch Mit-Gründer der Initiative für einen Beitritt der Schweiz zur UNO, die das Schweizer Stimmvolk 2002 annahm.
Einen Namen machte er sich auch als Teilnehmer von fast 100 Missionen als Wahlbeobachter in Europa.
«Im Gegensatz zu Kalifornien oder Deutschland fehlt in der Schweiz ein Verfassungsgericht, das Initiativen ganz oder teilweise annullieren könnte, wenn sie grundlegende Menschenrechte verletzen. Es braucht eine solche Institution zur Verhinderung von Entscheiden, die zur Diskriminierung von Minderheiten und zu einer Tyrannei der Mehrheit führen können.
«Jeder Mensch hat Grundrechte. Über sie darf nie abgestimmt werden, sie sind unverhandelbar. Gewisse Gruppen von Menschen, sogar Kriminelle, müssen durch Gesetze geschützt sein. Es gab zuletzt in der Schweiz mehrere Initiativen, die vom Stimmvolk angenommen wurden und die Grundrechte verletzen: Die lebenslange Verwahrung von Sexualstraftätern ohne Möglichkeit auf Wiedererwägung oder das lebenslange Berufsverbot von verurteilten Pädophilen für Arbeiten mit Kindern sind solche Beispiele. Auch die – abgelehnte – Initiative zur automatischen Ausschaffung von straffälligen Ausländern gehört dazu.»
«Warnung Nr. 2: Demokratie bedingt Regeln zur Transparenz bezüglich Finanzierung politischer Parteien und Kampagnen. Denn Geld ist ein Risiko, weil es das System aushöhlen kann. Trotz wiederholter Kritik des Europarats ist die Schweiz das einzige Land Europas ohne ein Gesetz, das dem Sponsoring in der Politik Grenzen setzt. Dies ist umso schlimmer, weil die Schweizer Stimmbürger vier Mal pro Jahr über eine breite Palette von Fragen abstimmen. In den meisten anderen Ländern stellt sich die Finanzierungsfrage alle vier Jahre einmal bei den Wahlen.»
«Der Grund, weshalb Regierung und Parlament solche Regeln in der Schweiz abblocken, liegt im sehr hohen Stellenwert der Privatsphäre.»
«Weil es keine Bestimmungen für eine transparente Parteienfinanzierung gibt, ist es schwer zu sagen, welche Auswirkungen das Geld auf einzelne Abstimmungs- und Wahlkampagnen hat. Auch wenn man die Bedeutung des Geldes nicht abstreiten kann: Geld ist nicht der allein ausschlaggebende Faktor, und eine politische Niederlage kann nie dem Mangel finanzieller Mittel in die Schuhe geschoben werden.»
«Drittens benötigen Demokratien starke Parteien, welche die öffentlichen Interesse verteidigen, Politiker ausbilden, Debatten organisieren und die Bürger über aktuelle Probleme informieren.»
«Unglücklicherweise verfügen Interessengruppen, die per Definition private Interessen wahrnehmen, über mehr Mittel als die meisten Parteien. Dies gilt für Wirtschaftsorganisationen wie für solche aus dem Umweltbereich.»
«Es ist offensichtlich, dass diese Verbände und Gruppen eine zunehmend stärkere Medienpräsenz aufweisen. Sie dominieren oft den öffentlichen Raum, insbesondere in der Deutschschweiz, und dies auf Kosten der Parteien und der Bürgerinnenund Bürger.»
Welches sind für Sie die Glanzpunkte oder Schattenseiten der direkten Demokratie in der Schweiz?
Wir sind gespannt auf Ihre Antworten.
(Übertragen aus dem Englischen: Renat Kuenzi)
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