Neues Leben für Genfer Refugium der Gegner Ben Alis
In der ehemaligen arabischen Buchhandlung Al-Diwan in Genf waren Persönlichkeiten der Revolution ein- und ausgegangen. 2007 wurde sie geschlossen, knapp zehn Jahre später soll sie in Tunis wiedereröffnet werden: Ihr Besitzer Mohamed Ben Henda will so dazu beitragen, die Kultur in seinem Heimatland zu beleben.
Ein blauer Container voll mit Tonnen von Büchern wartet darauf, auf einen Anhänger aufgeladen zu werden. Mit einigen Fotos auf Facebook, begleitet von einer starken Botschaft, zog der tunesische Aktivist Mohamed Ben Henda am 20. November einen Schlussstrich unter die arabische Buchhandlung Al-Diwan in Genf.
Das nächste Kapitel der Geschichte dieser Zufluchtsstätte, die im Leben und Kampf von Exil-Tunesiern während der Zeit des Regimes von Ben Ali einen wichtigen Platz eingenommen hatte, soll nun in Tunesien fortgeschrieben werden.
Die Geschichte von Al-Diwan ist untrennbar verbunden mit jener Mohamed Ben Hendas. Der heute 53 Jahre alte Tunesier hatte den Bücherladen Anfang der 1990er-Jahre übernommen, kurz nach seiner Ankunft in der Calvin-Stadt. «Ich hatte Tunesien 1992 verlassen, als Ben Ali die Schlinge immer enger zu zog», erzählt er in einem Café in Tunis.
Die Hauptstadt ist seine «Hochburg», wie er sagt, auch wenn er ursprünglich aus Jemmel stammt, einer im Süden liegenden Stadt im Sahel. Er ist aus Genf angereist, wo er noch immer lebt, um seine Bücher in Empfang zu nehmen. Der Container mit dem wertvollen Inhalt hatte am Tag vor unserem Treffen den Hafen in Marseille verlassen.
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Tunesischer Frühling
Bevor er in die Schweiz kam, war Mohamed Ben Henda in Tunesien unter der Diktatur «kulturell und politisch» aktiv gewesen. Kulturell im Rahmen von Klubs und Vereinen. Politisch über sein Engagement in der Partei der demokratischen Patrioten. Die Partei war damals verboten und wurde vom Leader der Linken, Chokri Belaïd, mit dem er befreundet war, bis zur Ermordung Belaïds im Februar 2013 geleitet. Mohamed Ben Henda führte auch eine Gewerkschafts-Aktion an, was seine Entlassung von seiner Tätigkeit im Bildungssektor nach sich zog.
«Alle kamen sie vorbei»
Es war die Liebe, die Mohamed Ben Henda nach Genf zog, in Gestalt einer Tessiner Studentin, mit der er heute verheiratet ist. Im Quartier Pâquis entdeckte er eine «kleine Buchhandlung, die in Arabisch und Französisch Literatur zur arabischen Welt anbot». Er freundete sich mit den Gründern von Al-Diwan an, dem Libanesen Joseph Yammouni und dem Tunesier Fawzi Mellah, zwei Intellektuellen. Zuerst wurde er als Geschäftsführer angestellt, später übernahm er den Laden ganz.
Dank einem Darlehen der Alternativen Bank Schweiz zog Mohamed Ben Henda mit Al-Diwan in neue Lokalitäten an der Rue de Pâquis 4b. Al-Diwan war bald schon viel mehr als nur ein Buchladen. Ben Henda organisierte Ausstellungen, Konferenzen, Debatten, Diskussionen am Runden Tisch, rief Treffen mit Menschenrechts-Aktivisten ins Leben oder unterstützte Aktivisten, die nach Genf kamen, um bei UNO-Gremien ihre Anliegen vorzubringen. Al-Diwan wurde schliesslich zum Hauptquartier der fortschrittlichen Kräfte Tunesiens. «Alle kamen dort vorbei», sagt der Inhaber.
Prägende Persönlichkeiten der Revolution tauchten in dem Laden auf: Chokri Belaïd, Hamma Hammami, Sprecher der Linkskoalition Volksfront, Mustapha Ben Jaafar, der schliesslich Präsident der Verfassungsgebenden Versammlung werden sollte, der spätere Präsident Moncef Marzouki. «Mit den Islamisten hingegen (die ebenfalls in Opposition zu Ben Ali standen, die Red.) wollte ich mich nie verbünden, das war die rote Linie.»
Mohamed Ben Henda erinnert sich auch an eine lange Diskussion mit Abdessalem Jerad, dem ehemaligen Sekretär des mächtigen tunesischen Gewerkschaftsverbands (UGTT), um diesen davon zu überzeugen, seine Organisation zu demokratisieren. Der «militante Flügel» wurde nämlich damals vom «bürokratischen Flügel», der dem Regime nahe stand, unterdrückt. Schliesslich wurde 2002 in Djerba ein ausserordentlicher UCTT-Kongress abgehalten, der zum Wendepunkt für die zentrale Gewerkschaft wurde. Die UCTT erhielt übrigens jüngst zusammen mit drei weiteren Organisationen für ihre Rolle beim Übergang Tunesiens zur Demokratie den Friedensnobelpreis 2015.
Kämpfer gegen Ben Ali
«Ich sehe mich wieder, wie ich mit meinem Velo jeweils direkt von der Universität zur Buchhandlung radelte, und sei es auch nur, um Arabisch zu sprechen», erinnert sich Anis Mansouri. Er ist ein «kultureller Widerstandskämpfer», der 2000 nach Genf kam. In seinem Schweizer Exil agierte er als Koordinator der Volksfront und gründete mit Mohamed Ben Henda die Vereinigung der Tunesier und Tunesierinnen der Schweiz.
Ihre Wege hatten sich im Juni 2000 in Genf beim alternativen Gipfeltreffen des Appells von Bangkok zum ersten Mal gekreuzt. «Ich sah ein Transparent, auf dem Ben Ali frontal angegriffen wurde, getragen wurde es von Mohamed Ben Henda. Es löste in mir eine starke emotionale Reaktion aus, als ich einen Tunesier mit derart viel Mut sah. Denn Tunesien im Jahr 2000, das war alles andere als zum Lachen.»
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Wahlen in Tunesien
Kann man sagen, dass Al-Diwan Teil des Prozesses war, der am 14. Januar 2011 zur Revolution in Tunesien führte? «Ohne Zweifel», ist Anis Mansour überzeugt. «Es war ein Resonanzkörper für die Auseinandersetzungen, die sich in Tunesien abspielten, aber nicht nur. Wir ergriffen Initiativen, koordinierten den Kampf mit unseren Freunden in Frankreich und anderswo. Und auf einer persönlichen Ebene, als ich darum kämpfte, meinen Pass wieder zu erhalten, der beschlagnahmt worden war, tat ich das auch von hier aus.»
Damals hätten auch nicht wenige Landsleute versucht, sich in ihrem Kreise einzuschleusen, aber er habe nicht wenige enttarnen können. «Viele Leute hatten Angst, die Buchhandlung zu betreten, die vom Regime als Ort Subversiver bezeichnet worden war.»
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Jean Ziegler als prominenter Freund und Förderer
Al-Diwan war aber nicht nur für Menschen aus Tunesien wichtig. «Es war eine Zufluchtsstätte für praktisch alle fortschrittlichen Kräfte aus dem Nahen Osten und dem arabisch-berberischen Maghreb», erklärt Anis Mansouri mit Nachdruck. «Parallel zu den politischen Aktivitäten gab es kulturelle Angebote – Konzerte im Sous-Sol, Debatten zur Förderung der Literatur und so weiter.»
«Al-Diwan leistete hervorragende Arbeit», erklärt seinerseits der Schweizer Soziologe Jean Ziegler, ein Freund Mohamed Ben Hendas. «Es war ein Ort der Gedanken, der Diskussion und der Würde, dazu kam die tunesische Gastfreundschaft, denn auch der Tee war ausgezeichnet.»
Ein harter Schlag
Doch eine zu hohe Miete, Probleme mit der Hausverwaltung sowie eine ewige Baustelle an der Rue des Pâquis zwangen Mohamed Ben Henda 2007, sein Lokal zu schliessen.
Zusammen mit Anis Mansouri und anderen gründete er eine Genossenschaft und versuchte, Al-Diwan an neuer Stelle wieder einzurichten – erfolglos. «Wir versuchten, von der Stadt ein subventioniertes Lokal zu kriegen, erhielten aber nichts als Versprechen», erklärt Mohamed Ben Henda.
«Jedes Mal, wenn ich im Pâquis am alten Ladenlokal vorbeigehe, wo sich heute eine Kleiderboutique befindet, habe ich einen Knoten im Magen», erklärt Anis Mansouri, der als Sozialpädagoge in Genf arbeitet.
Statt seine Bücher auf unbestimmte Zeit in einem Depot vor sich hin dämmern zu lassen, entschied sich Mohamed Ben Henda, Al-Diwan in Tunis wieder auferstehen zu lassen, wahrscheinlich in Form einer Café-Buchhandlung. «Mit dem 14. Januar (2011, Datum der Flucht Ben Alis, N.d.R.) ist die Kultur wieder in Gang gekommen», sagt er. «Die Bürger und Bürgerinnen beginnen, sich für politische Dinge zu interessieren. Und es gibt viele Fragen zum Säkularismus, zum Terrorismus, zur Religion.»
Derzeit ist Mohamed Ben Henda auf der Suche nach einem Lokal und Finanzierung. In der Zwischenzeit werden seine Bücher bei ihm in Jemmel gelagert – und die Umschläge seiner rund 10’000 Titel – aus der ganzen arabischen Welt – sollen digital erfasst werden, um eine Datenbank aufzubauen. Einen Teil der Bücher will er verschenken.
Islam des Lichts unterstützen
Parallel dazu will der unermüdliche Aktivist sich im Verlagswesen versuchen, konkret in der Übersetzung arabischer Bücher. «Heute haben etwa 99% der übersetzten Werke eine fundamentalistische Färbung und werden durch Petrodollars finanziert», sagt er. «Von anderen Strömungen wie der Schule der Mu’tazila (die als «Islam des Lichts» verstanden wird, die Red.) gibt es eigentlich nichts. Und dann wundert man sich über den Terrorismus. Ich will eine Palette anbieten, um die Reflexion zu ermöglichen, so dass man nicht nur vor einer einzigen Wahl steht.»
Anis Mansouri hat zwiespältige Gefühle, was den Wegzug von Al-Diwan auf die andere Seite des Mittelmeers angeht. «Es schmerzt mich einerseits, dass Genf diesen Begegnungsraum für immer verloren hat. Andererseits bin ich froh, denn in Tunesien wird Al-Diwan dazu beitragen können, gegen die Kultur des Todes anzugehen, die derzeit von den Feinden der Aufklärung propagiert wird.» Tunesien stellt in der Tat zahlenmässig die grösste nationale Gruppe jener Personen, die sich dem so genannten Islamischen Staat angeschlossen haben.
«Bei unserem Kampf geht es in erster Linie um Bildung und Kultur. Ben Ali hat das Verhältnis zum Buch ruiniert, und ich sehe, dass dieses Verhältnis bei den Jungen von heute sehr problematisch ist. Ich denke, dass Al-Diwan helfen kann, diese Situation etwas zu verbessern. Denn was Mohamed besitzt, ist ein wahrer Schatz.»
(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)
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