15 Vorlagen in einem Jahr: Das Schweizer Volk ist gefordert
Nach den Festtagen heisst es gleich wieder: Viva la Fiesta! Das gilt für die Demokratie und die Volksrechte in der Schweiz. Denn das neue Jahr fordert die Stimmbürgerinnen und -bürger mit bis zu 15 Volksentscheiden. Ein Überblick.
Manchen dürften noch die Festtage in den Knochen stecken. Oder gar im Kopf brummen. Dabei gilt es, den Schwung der Feierlichkeiten mitzunehmen. Und zwar möglichst so, dass er für das ganze Jahr reicht.
Denn das Schweizer Demokratie-Jahr 2020 verspricht Hochspannung, und das über alle vier Abstimmungssonntage hinaus. Diese finden traditionell im Februar, Mai, September und November statt.
+ Ausblick auf das internationale Demokratiejahr 2020 (in Englisch, von Bruno Kaufmann, swissinfo.ch-Korrespondent für globale Demokratie)
2020 erleben wir also eine direkte Demokratie der Schweiz in Hochform. Das ist zugleich auch eine Ansage ans Ausland. Dort bringen Wahlen vermehrt Parteien und Männer an die Macht, die lieber ohne das Volk regieren.
Schafft es wieder mal eine?
Für Spannung sorgt auch die Frage, ob erstmals seit sechs Jahren wieder eine Volksinitiative die Abstimmungshürde an der Urne nimmt (siehe Box).
Auf die Stimmenden wartet in der Schweiz also ein gerüttelt Mass an Demokratie-Arbeit. Gilt es doch, für jede Vorlage auf dem Stimmzettel ein möglichst informiertes Ja oder Nein zu setzen. Informiert heisst, über die Argumente der Befürworter und der Gegner einigermassen Bescheid zu wissen. Natürlich kann man den Zettel auch leer einlegen. Oder man nimmt gar nicht teil, was für die Mehrheit der Stimmberechtigten zutrifft.
Abstimmungs-Rekordhalterin
Die Schweiz hat seit ihrer Gründung 1848 bis heute rund 730 Volksabstimmungen auf Bundesebene erlebt – so viele wie kein anderes Land der Welt.
Dafür verantwortlich sind die Volksrechte. Es sind dies das Referendum, 1874 eingeführt, und die Volksinitiative (1892). Letztere ist der Hit Nr. 1 der direkten Demokratie Schweiz, obwohl nur rund 10% aller Volksinitiativen vom Volk angenommen werden.
Letztmals wurde eine Volksinitiative vor knapp sechs Jahren angenommen («Pädophile sollen nicht mehr mit Kindern arbeiten dürfen»).
Die Agenda des Abstimmungsjahrs 2020 ist deshalb noch nicht ganz definitiv, weil die Regierung die Abstimmungsvorlagen mindestens vier Monate vor dem Termin bekanntgeben muss.
Die Schweiz und das Fremde – Comeback eines Dauerbrenners
Schon am 17. Mai ertönt der Böller des Jahres: An der Urne kommt es zum grossen Showdown zum heissesten Eisen der Schweizer Politik der letzten 70 Jahre – dem Verhältnis der Schweiz zum Fremden. Zur Abstimmung kommt die die Begrenzungsinitiative. Mit ihr will die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP) die Einwanderung bremsen. Die Gegnerschaft spricht auch von der «Kündigungsinitiative», denn die SVP verlangt auch das Verbot der Personenfreizügigkeit mit der Europäischen Union.
Damit würde die Rechtspartei eine der zentralen Säulen der bilateralen Verträge zwischen der Schweiz und der Europäischen Union herausbrechen. Doch danach sieht es vorerst nicht aus: In einer Umfrage der SonntagsZeitung sagten Anfang Januar 58% Nein zur Kündigungsinitiative. Nur 35% der Befragten wollen sie annehmen.
Das Votum von Mitte Mai aber ist noch in anderer Hinsicht von grosser Bedeutung: Hält der Schweizer Souverän an der Personenfreizügigkeit fest, dürfte dies die akute Blockade betreffend Rahmenabkommen, die in Bern herrscht, lösen.
Amherd und die Armee zittern
Im Herbst kommt es für Verteidigungsministerin Viola Amherd zur grossen Zitterpartie: Dann entscheidet das Stimmvolk über einen Sechs-Milliarden-Franken-Kredit zum Kauf neuer Kampfjets für die Schweizer Luftwaffe. 2014 war ihr Vorgänger Ueli Maurer in der Volksabstimmung über den Kauf des schwedischen Gripen gescheitert – die grösste Niederlage Maurers als Bundesrat.
#PaxHelveticaExterner Link
— Claude Longchamp (@claudelongchamp) January 6, 2020Externer Link
Die jungen Zürcher Politologin Flavia Caroni erklärt in nur fünf Minuten höchst anschaulich, wie die Schweiz zur direkten Demokratie wurde – ein super Video!@IPZuserExterner Link https://t.co/Zki8cjNIp9Externer Link via @YouTubeExterner Link pic.twitter.com/SW7uPqDRTvExterner Link
Sagt das Schweizer Volk erneut Nein, sei dies das Ende der Schweizer Armee, wie wir sie heute kennen, schrieb die Zeitung «Blick», für welche die Schweizer Armee traditionelles Kernbusiness ist.
Zur Abstimmung steht noch eine zweite Armeevorlage: Es geht um höhere Hürden für den Zivildienst. Damit will das Parlament den Bestand der Armee stabilisieren, indem die Hürden für den Zivildienst als Alternative zum Militärdienst erhöht werden.
Die Multis zittern
Vermutlich am 27. September dürfte ein Böllerschuss die Schweiz und ihre Wirtschaft und sogar das Ausland aufrütteln: Der Entscheid über die Konzernverantwortungs-Initiative steht an. Weltkonzernen mit Sitz in der Schweiz soll ein Riegel geschoben werden, satte Gewinne auf dem Buckel der Ärmsten der Welt und der Umwelt zu erzielen.
Die Bauern zittern
Stichwort Umwelt: Im zweiten Halbjahr kommen zwei Initiativen zur Abstimmung, die es ebenfalls in sich haben: Es geht um die Pestizid- und die Trinkwasser-Initiative. Beide hätten bei Annahme markante Verschärfungen von Umweltstandards in der Landwirtschaft zur Folge. Ziel ist der bessere Schutz von Mensch, Tier und Umwelt vor teils noch unerforschten Risiken giftiger Substanzen, die via Pestizide ins Trinkwasser gelangen.
Die Bauern sehen sich arg in der Zwickmühle punkto Ernährungssicherheit: Einerseits sollen sie die Menschen in der Schweiz mit gesunden Nahrungsmitteln versorgen, andererseits belasten sie mit dem Einsatz von Chemikalien zur Schädlingsbekämpfung die Böden und das Trinkwasser.
Auch Referendumsjahr
2020 bringt auch einen Aufschwung für das Volksrecht Nr. 2, das Referendum: Die Stimmenden haben die Gelegenheit, mit dem Volksveto neue Gesetze über einen zweiwöchigen Vaterschaftsurlaub, höhere Kinderabzüge in der Steuererklärung und gegen die Einführung einer «eID», einer elektronischen Identitätskarte, zu Fall zu bringen. Auch das neue Urheberrecht gelangt dank eines Referendums zur Abstimmung.
Wegen Coronavirus auf 2021 verschoben
Aufgrund der Coronakrise haben die Veranstalter Externer Linkdas Global Forum on Modern Direct Democracy, das für diesen Herbst in Bern geplant war, auf Frühling 2021 verschoben.
Die Weltkonferenz der Volksrechte und Bürgerpartizipation findet neu vom 28. April bis 1. Mai in der Schweizer Hauptstadt statt.
Berns Stadtpräsident Alec von Graffenried sieht in der Verschiebung auch eine Chance. «Gerade in der Nach-Corona-Zeit wird das Thema direkte Demokratie in vielen Länder von grosser Aktualität sein», heisst es in einer offiziellen MitteilungExterner Link. «Zudem kann die Schweiz als Gastland im nächsten Jahr aufgrund der Corona-Krise sehr praxisorientiert aufzeigen, wie eine moderne direkte Demokratie mit Herausforderungen, wie sie eine Pandemie stellt, politisch und gesellschaftlich umgeht», so von Graffenried.
Wahlkampfmodus off, Sachpolitik on
Aber wo sind die Klimathemen? Dies die berechtigte Frage nach der historischen Klimawahl vom 20. Oktober 2019, als die Grünen mit 17 dazu gewonnen Sitzen den grössten Sieg aller Parteien seit 100 Jahren feiern konnten. Klar ist: Nach 2019, als die Wahlen dominierten, stehen 2020 wieder Sachthemen im Vordergrund.
Und hier gibt es laut Claude Longchamp, dem Politikwissenschaftler und Politikanalysten von swissinfo.ch, ein Thema, das nicht nur das neue Jahr, sondern die ganze Legislatur bis 2023 dominieren wird: die Sozialversicherungen. Das Augenmerk liege insbesondere auf der Rentenreform und der Krankenversicherung.
Direkte Demokratie Schweiz in der Praxis
Das Demokratiejahr 2020 soll aber nicht zur grossen Nabelschau verkommen. Dafür sorgt vor allem das Globale Forum für moderne Direkte Demokratie, das vom 23. bis 26. September 2020 in Bern stattfindet. An der Weltkonferenz werden in der Hauptstadt mehrere Hundert Politiker, Wissenschaftlerinnen, Vertreterinnen und Vertreter von Behörden, der Zivilgesellschaft sowie der Medien darüber, wie Demokratien noch demokratischer werden können.
Zum Abschluss winkt den Teilnehmenden ein Einblick in den Maschinenraum der Abstimmungsdemokratie Schweiz: Am 27. September können sie in einem Abstimmungslokal live dabei sein, wenn das Stimmvolk darüber entscheidet, ob die grossen Weltkonzerne stärker in die Pflicht genommen werden betreffend Standards in guter Geschäftsführung und der Einhaltung von Arbeits- und Umweltnormen.
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