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«Ausgelostes Bürgerparlament wäre unbestechlich»

Swissinfo Redaktion

Auch in direkten Demokratien wie der Schweiz dominierten eigennützige Interessen der politischen Akteure, sagt der deutsche Politikexperte Timo Rieg. Deshalb plädiert er für ein Bürgerparlament, dessen Mitglieder per Losentscheid zusammengestellt werden. Und dies nur für eine kurze Session, bevor die nächste Bürgerjury übernimmt. Der Beitrag, den Rieg exklusiv für swissinfo.ch schrieb, ist eine Replik auf den jüngst hier publizierten Standpunkt von Liu Junning, der die direkte Demokratie als unpraktikabel betitelte.

Der Deutsche Timo Rieg, 45, ist Journalist und Biologe. Er hat das Verfahren «Youth Citizens Jury» entwickelt und erprobt, eine Form von Jugendparlament, dessen Mitglieder ausgelost werden. Er ist Autor von 18 Büchern. Jüngste Publikation ist «Demokratie für Deutschland», in dem er eine Kombination aus Bürgerparlament, direkt gewählter Regierung und Volksentscheiden durchspielt. zVg

An direkter Demokratie wird viel bemängelt: Es sei nicht sehr kreativ, nur Ja oder Nein sagen zu dürfen; jede Abstimmung sei anfällig für Populismus und Falschinformationen; bei geringer Beteiligung könne eine Minderheit über die Mehrheit herrschen; das Stimmvolk trage am Ende nicht die Verantwortung für sein Votum; die meisten Themen seien zu komplex fürs einfache Volk usw.

Deshalb wird in der Schweiz über Grenzen der Direkten Demokratie diskutiert, besonders heftig und international beäugt nach der Masseneinwanderungs-Initiative, und deshalb verweigert in Deutschland die Regierungspartei CDU die Einführung von Volksentscheiden auf nationaler Ebene, deshalb loben PolitikwissenschaftlerExterner Link die repräsentative, die parlamentarische, die Parteiendemokratie. Dabei unterstellen alle Debatten, Demokratie wolle die Menschen glücklich  machen, Minderheiten schützen, für Frieden sorgen, Zukunft sichern, die Welt retten, kurz: für alle das Beste. Das ist leider Kokolores.

Repräsentative wie direkte Demokratie sind Herrschaftsformen. Und Herrschaft ist immer Egoismus. Herrschaft bedeutet Verfügungsgewalt über Ressourcen, zum Nutzen des eigenen Lebens. Nichts lässt die Erwartung zu, der Mensch sei diesbezüglich die einzige Ausnahme unter allen Eukaryoten auf diesem Globus.

Akteure als Nutzniesser

Wenn heute über Demokratiereformen verhandelt wird, sollte man sich wie eh und je zunächst fragen: cui bono – wem nützt es? Reformen nützen eben selten «dem Volk», «der Allgemeinheit», «Minderheiten» gar – sondern stets vor allem ihren Protagonisten. Altruismus ist in der Biologie nur ein Weg, das Beste aus seiner Situation zu machen, indem man diejenigen unterstützt, die einem zum Erfolg verhelfen können. Es ist gerade keine «Uneigennützigkeit».

In den Ursprüngen der Demokratie gab es vor 2400 Jahren ein Verfahren, das dem zuwiderlief: die Auslosung von Entscheidern. Statt alles mit allen zu beraten (direkte Demokratie) oder die gesamte Entscheidungsmacht gewählten «Eliten» zu übertragen (repräsentative Demokratie), sollte eine Stichprobe von Bürgern stellvertretend für alle arbeiten. Das ist effizient, das schlägt alle Kritik an unhandlicher Grösse heutiger Nationen in den Wind – aber Auslosung ist machtfeindlich. Deshalb verschwand diese grandiose Idee im antiken Griechenland auch alsbald wieder.

Heute ist «aleatorische Demokratie», die Auswahl von Volksvertretern per Los, maximal eine Fussnote in der Debatte. Weil sie tatsächlich das gute Zusammenleben aller im Blick hat und für individuelle Karrierewünsche keinerlei Raum lässt, ist sie – rein biologisch – unsexy. So gibt es Aleatorik heute nur als deliberatives Element, also um den wirklich Herrschenden unverbindliche Vorschläge zu machen.

Wechsel im Ein-Wochen-Rhythmus

Die Technik ist als «Planungszelle» oder «Citizens Jury» bekannt: Je 25 aus der Bevölkerung ausgeloste Bürger bilden für eine Woche eine Beratungsgruppe (Jury). Die Bürger bekommen klare Entscheidungsfragen, dazu alle benötigten Informationen (Unterlagen, Referenten, es kann Ortsbesichtigungen geben, Befragungen etc.). Unabhängige Prozessbegleiter organisieren alles, was gebraucht wird. Sämtliche Beratungen finden nur in jeweils wieder wechselnd per Los gebildeten Kleinstgruppen mit fünf Leuten statt. Keine Moderation, keinerlei Einfluss von irgendwem – nur die Bürger unter sich! Jede 5er-Gruppe gibt ein Votum ab, am Ende einer Beratungseinheit stimmen alle 25 Bürger ab. Will man statistische Sicherheit, lässt man mehrere Jurys parallel, aber voneinander völlig unabhängig arbeiten.

Die Vorzüge: Die ausgelosten Bürger kommen zu guten, konsensfähigen Entscheidungen. Niemand von ihnen ist mit einem speziellen Plan angetreten – sie wurden ja alle ausgelost, ohne sich beworben zu haben. Niemand plant eine politische Karriere – nach fünf Tagen endet das Mandat, es gibt keine Verlängerung. Und die ausgelosten Bürger wissen um ihre Verantwortung: sie stehen stellvertretend für alle, es geht gerade nicht um ihre persönlichen Vorlieben, es geht darum, Vorschläge von Experten, Verwaltungen oder Lobbyisten zu prüfen, zu bewerten und die bestmögliche Regelung vorzuschlagen. Das ist ein völlig anderes Arbeiten als bei gewählten Politikern oder Volksentscheid-Initiativen. Und Gespräche in diesen Kleinstgruppen verlaufen gänzlich anders als Diskussionen via Saalmikrofon oder Internet-Forum.  

«Standpunkt»

swissinfo.ch öffnet seine Spalten für ausgewählte Gastbeiträge. Wir werden regelmässig Texte von Experten, Entscheidungsträgern und Beobachtern publizieren. Ziel ist es, eigenständige Standpunkte zu Schweizer Themen oder zu Themen, die die Schweiz interessieren, zu publizieren und so zu einer lebendigen Debatte beizutragen.

Man könnte dieses Verfahren fest etablieren, nennen wir es «Bürgerparlament». Woche für Woche kommen 200 jeweils neu Ausgeloste in diesem Bürgerparlament zusammen, hören im Plenum die Experten und Lobbyvertreter, beraten dann in ihren Jury- und Kleinstgruppen, stellen Fragen, machen Veränderungsvorschläge, beauftragen die Verwaltung mit Nachbesserungen. Am Ende steht eine klare Empfehlung, ein Gesetz (oder dessen Aufhebung/ Ablehnung) – und das Ergebnis ist ganz anders als heute im Parlament in jedem Fall repräsentativ!

Denn das Bürgerparlament ist ein Mini-Populus, eine (fast) exakte Miniatur des gesamten Volkes. Alle Denkrichtungen, alle Milieus, alle Berufe, Kunstinteressen oder Hobbys sind darin anteilig vertreten. Niemand und nichts wird vergessen – und doch hat man eine technisch wie finanziell handhabbare Grösse. In diesem Bürgerparlament könnte alles beraten werden, was Bürger bewegt – nicht nur das, was hunderttausende Unterstützer findet. Es würde gearbeitet mit dem alleinigen Ziel, gute Entscheidungen zu treffen, Probleme wirklich zu lösen. Niemand kann persönlich profitieren, sich produzieren, es gibt keine Wahlkampfreden, keine (leeren) Versprechungen… Aleatorische Demokratie ist ziemlich perfekt, eine Kombination des Besten aus Parlamentarismus und Volksentscheid.

Cui bono – wem nützt sie? Fast allen. Nur nicht den heute Mächtigen. Wenn Parteien und Lobbygruppen noch bedeutsam sein wollten, müssten sie in der aleatorischen Demokratie für ihre Zukunftsvision so erfolgreich beim Volk werben, dass sich ausgeloste Vertreter nach eingehender Beratung genau für dies Zukunftsvision entscheiden.

Einfacher ist es natürlich, sich eine geringe Wahlbeteiligung schönzureden und weiterhin die Generalvollmacht zu beanspruchen. 

Die in diesem Artikel ausgedrückten Ansichten sind ausschliesslich jene des Autors und müssen sich nicht mit der Position von swissinfo.ch decken.

Lead und Zwischentitel wurden von swissinfo.ch gesetzt.

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