Die Geburt der modernen Demokratie im Herzen Europas
Die Helvetische Revolution brachte der Schweiz die Demokratie. Es war ein Aufstand gegen den Adel – und der Anfang eines langen Wegs, den das Land nicht ohne fremde Hilfe schaffte.
Peter Ochs aus Basel erklärt an einem Frühlingstag 1798 auf dem Balkon des Aarauer Rathauses die Helvetische Republik. Der Jubel auf den Strassen des Städtchens ist gross. Denn es ist der Tag der Befreiung des mittelländischen Gebiets von der bernischen Herrschaft.
Ochs hatte im Auftrag der französischen Regierung eine eigene Verfassung ausgearbeitet, um einen Einheitsstaat zu formen. Der aufgeklärte Reformer begründete darin erstmals auf Verfassungsebene die Gewaltenteilung zwischen einer gesetzgebenden, einer ausführenden und einer rechtssprechenden Behörde.
Die Helvetische Republik dauerte nur von 1798 bis 1803. Sie stand ganz im Zeichen der damaligen französischen Politik, dass auch mit militärischen Mitteln Schwesterrepubliken geschaffen werden sollen.
Sie setzte auf die wirtschaftlich potenten, politisch aber rechtlosen Bürger im Ancien Regime. Doch scheiterte sie an den herrschenden Aristokraten in den Zünften, Patriziaten und Landsgemeinden.
Die mehrteilige Serie ist ganz auf unseren Autor zugeschnitten: Claude Longchamps vielseitige Expertise als Politikwissenschafter und Historiker macht ihn zu dem Mann, der Orte, an denen sich Wichtiges ereignet hatte, zum Sprechen bringt.
Longchamp hat als Gründer des Forschungsinstituts gfs.bern die Politikforschung in der Schweiz auf ein neues Level gehoben. Heute ist er der erfahrenste Politikanalyst der Schweiz. In Kombination mit der Geschichte bietet Longchamp schon länger als «Stadtwanderer» Rundgänge durch Bern und andere Schweizer Schauplätze an, die grossen Anklang finden.
«Longchamp performt Demokratie», schrieb einmal ein Journalist zu einer «Stadtwanderung» durch Bern.
Longchamp ist auch leidenschaftlicher Blogger: In Zoonpoliticon Externer Linkschreibt er über politikwissenschaftliche Themen. Als «Stadtwanderer»Externer Link bringt er Orte zum Sprechen, die in der Entwicklung der Demokratie eine wichtige Rolle gespielt haben.
Er postet zudem regelmässige Beiträge auf FacebookExterner Link, Instagram Externer Linkund TwitterExterner Link.
Dennoch war es ein Durchbruch zur Demokratisierung. Kurz darauf, 1803 und 1815, folgten jedoch Rückschläge. Demokratie entwickelt sich selten linear, sondern in Wellenbewegungen, und Demokratisierung dauert lange, sie ist auch nie ganz vollendet.
Der neue Staat
Neu war beispielsweise eine Vorform von Parteien. Ihre Programme waren noch rudimentär. Doch finden sich darin Positionen zur Moderne und zum Fortschritt.
Da gab es Demokraten, auch Patrioten genannt. Sie waren bedingungslose Anhänger Frankreichs. Hinzu kamen Republikaner. Das waren meist Reiche, die für Frankreich, aber gegen Steuerabgaben an den Nachbarn waren. Ferner gab es Föderalisten, die alle revolutionär anmutenden Neuerungen rückgängig machen wollten.
Mit dem Koalitionskrieg der europäischen Mächte gegen Frankreich kam es zu vier Staatsstreichen in der Schweiz. Dabei rückte das politische Schwergewicht von den Demokraten hin zu den Föderalisten. Schliesslich stabilisierten es die Franzosen bei den Republikanern.
Neu war auch die Existenz einer Hauptstadt. Allerdings machte diese eine richtige Odyssee und verschob sich von Aarau nach Luzern und Bern, um schliesslich in Lausanne zu landen (zur Hauptstadtfrage siehe Box am Schluss).
Steckengebliebene Reformansätze
Zahlreiche Reformen für einen zivilisierten, bürgerlichen Staat wurden während der Helvetischen Republik von Frankreich, also von aussen, angestossen.
Eingeführt wurden die persönlichen Freiheitsrechte. Die Sonderstellung der Juden fiel. Und die Folter wurde aufgehoben. Es verschwand auch der Zunftzwang; Handels- und Gewerbefreiheiten kam auf. Gewerbeschulen wurden gegründet. Der Schweizer Franken erblickte als Einheitswährung das Licht der Welt. Die Klostergüter wurden konfisziert. Die bäuerliche Abgabe auf Waren, der «Zehnte», wurde teilweise aufgehoben.
Doch scheiterte die neue Republik am chronischen Geldmangel, aber auch am europäischen Krieg, der teilweise auf ihrem Boden ausgetragen wurde. Innere Streitigkeiten trugen das Ihre dazu bei.
Demokratische Innovationen
Zwei demokratische Neuerungen der Helvetischen Republik stechen heraus und prägten auch die Entstehung anderer Demokratien:
1799 wurden die Urversammlungen der männlichen Aktivbürger eingerichtet. Sie konnten die Gemeindebehörden wählen. Und sie bestimmten Elektoren, welche das Parlament, die Richter und die Kantonkammer wählten, die der kantonalen Verwaltung vorstand. Das Parlament wählte das fünfköpfige Direktorium. Es ernannte die Minister für die Verwaltungsführung, den Präsidenten des Obersten Gerichtshofes sowie Regierungsstatthalter.
Das zweite Experiment betraf die erste nationale Volksabstimmung. Sie wurde für die Verfassungsrevision von 1802 eingeführt. Neu entschieden keine Kollektive unter freiem Himmel mehr; gezählt wurden geheim abgegebene Stimmen der Individuen.
Doch das Zählverfahren funktionierte nach dem Veto-Prinzip. Man zählte die Befürworter und die Abwesenden zusammen. Das gab mehr Zustimmung als Ablehnung, obwohl es mehr Nein als Ja hatte. Und nur so wurde die Verfassungsrevision angenommen.
Man kann von einer gelenkten Demokratie sprechen. Demokratische Institutionen entstanden. Die Macht, darüber müssen wir uns keine Illusionen machen, aber blieb bei den französischen Besatzern.
Der Bürgerkrieg
Gemäss dem Friedensvertrag von Lunéville von 1802 zogen die Besatzer im Sommer ab. Das destabilisierte die Republik. Es kam zum «Stecklikrieg», dem Aufstand der Bauern mit Heugabeln gegen die Bajonette der Besatzer.
Nochmals griff Konsul Bonaparte ein und diktierte der Consulta die Mediationsverfassung. Sie sollte einen Ausgleich zwischen den zerstrittenen Parteien schaffen – ohne Volksabstimmung!
Eingeführt wurde ein bundesstaatliches Modell, erstmals mit gleichberechtigten Kantonen. Zu den 13 alten Orten kamen die sechs «napoleonischen» Kantone hinzu. Für sie war es die Befreiung von Untertanenverhältnissen.
Die Schweiz verstand sich seit dem Westfälischen Frieden von 1648 als Republik, bestehend aus 13 souveränen Republiken. Eine Hauptstadt gab es nicht.
Am 22. September 1792 wurde aus der französischen Monarchie eine Republik. Es folgten unter ihrem Einfluss Musterrepubliken in den Niederlanden (1795-1806), in Italien (1797-1805) und in der Schweiz (1798 und 1815).
Nach französischem Vorbild bekam die Helvetische Republik 1798 eine Hauptstadt. Doch musste sie wegen Kriegen von Aarau aus dreimal verlegt werden.
1803 ging man zum «Vorortssystem» über – der Herkunftsort des Landammanns war Regierungssitz. Hauptstädte gab es nur in den Kantonen.
1832 wurde Luzern als feste Hauptstadt der Schweizer Eidgenossenschaft vorgeschlagen, doch lehnte dies der katholisch-konservative Kanton ab.
Somit bekam die Schweiz mit Bern erst 1848 einen festen Ort für Parlament und Regierung, allerdings nur als «Bundesstadt» und ohne Sitz der Verwaltung zu sein.
Nach Frankreichs Niederlagen auf den Schlachtfeldern besetzten österreichische und russische Truppen das Land. Dank der Vermittlung des späteren Präsidenten Griechenlands Ioannis Kapodistrias erzielte man 1814 eine Einigung, die der Wiener Kongress akzeptierte. Der wies Genf, Neuenburg und Wallis der Schweizer Eidgenossenschaft zu, wie das Land seither heisst. Geformt wurde so ein neutraler Pufferstaat mit festen Grenzen.
Der Wiener Kongress gewährte zwei folgenreiche Ausnahmen vom wiederhergestellten Staatenbund: Die Schweiz durfte eine nationale Armee aufbauen, und die Kantone durften sich zu Konkordaten zusammenschliessen.
Die Restauration der Staatswissenschaften
Der neue Staat von 1815 entsprach dem Geist der damaligen Restauration. Den Begriff prägte der Berner Patrizier Karl Ludwig von Haller.
Dieser war ein rabiater Reaktionär. Alle modernen Staatsideen, die auf der Volkssouveränität von Jean-Jacques Rousseau aufbauten, verbannte der konvertierte Katholik in die Hölle. In den Himmel kamen dafür Theokratien, Monarchien und Armeediktaturen. Zudem zählte er Adelsrepubliken wie in der alten Eidgenossenschaft zu den guten Staatsformen.
Durchsetzen konnte er sich nicht. Dafür war die junge Demokratie schon zu robust.
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