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Das Zusammenspiel aus Vertrauen und Stabilität in der Schweiz

Open Air Gemeindeversammlung Zollikon 2020
Abstimmen unter dem freien Himmel während der Pandemie: Die Gemeindeversammlung von Zollikon traf sich im Juli 2020 draussen. KEYSTONE/Ennio Leanza

Während Populismus, Disruption und Autoritarismus die Welt neu ordnen, ist die Schweiz relativ beständig. Warum? Eine Analyse von Benjamin von Wyl.

Der Welt stehen 2025 grosse Veränderungen bevor. In der Geopolitik scheinen traditionelle Bündnisse nicht mehr unbedingt tragfähig. In vielen Ländern haben im vergangenen Jahr populistische Kräfte gute Wahlergebnisse erzielt oder gar die Regierung erlangt.

In den USA darf Elon Musk, der reichste Mann der Welt, seine Ideen der Disruption auf den Behördenapparat anwenden.

In der Schweiz teilen sich die vier grössten Parteien die Regierungsmacht, wie sie es seit 1959 meistens gemacht haben.

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Über die Demokratie in der Schweiz für ein internationales Publikum zu berichten, führt oft dazu, dass man Geschichten von Stabilität erzählt und dabei das polierte Image des Landes differenziert, Grautöne benennt.

Trotzdem gilt es auch immer wieder klarzustellen, dass es um die Wahrnehmung von Politik und Institutionen in der Schweiz im Vergleich nicht so schlecht bestellt ist.

Schweiz: Höchstes Vertrauen in die Regierung

Wir leben in einer Zeit, wo das Vertrauen in politische Institutionen in Bedrängnis ist. Vor allem auf nationaler oder gar supranationaler Ebene. In den USA beispielsweise vertraute 2023 weniger als ein Drittel dem Kongress, aber über zwei Drittel ihrer lokalen Regierung. Wohl zum Teil, weil man die Politiker:innen kennt – und weil man die Effekte ihrer Arbeit sieht: die neue Strasse, der neue Spielplatz, der verhinderte Parkplatz.

In der letzten OECD-Befragung waren es über die teilnehmenden Länder hinweg unter 40% der Befragten, die ihrer Landesregierung vertrauen. So steht es in der OECD-Untersuchung, die im Juli 2024Externer Link erschienen ist.

Und die Schweiz erzielte dabei im doppelten Sinne das beste Resultat: Sie hatte den höchsten Anteil der Vertrauenden und den niedrigsten der Misstrauenden.

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61,9% der Menschen in der Schweiz vertrauten im November 2023 der nationalen Regierung sehr oder moderat. Nur 23,6% hatten kein oder wenig Vertrauen. 13,1% waren in der Vertrauensfrage neutral und 1,4% wussten ihre eigene Haltung nicht.

Vertrauen schafft Stabilität

Vor einiger Zeit hat sich das Demokratie-Team bei SWI swissinfo.ch hingesetzt und sich der Frage gestellt, was die Zutaten dafür sind, dass die Schweiz hier oben ausschwingt.

Liegt es am relativen Wohlstand vieler? An einer politischen Kultur, die es Bundesrät:innen erlaubt, einfach mit dem Zug fahren wie alle anderen? Oder an der direkten Demokratie?

Wir schrieben viele Artikel. Jeder fokussierte nur auf einen Teilaspekt. Eine wilde Collage, die versuchte die Schweiz zu erklären.

Wenn ich heute versuche alle Teile zusammen zu denken, komme ich zum persönlichen Schluss: Vertrauen schafft Stabilität und Stabilität ermöglicht Vertrauen.

Ohne Stabilität kann kein Vertrauen entstehen. In einer Demokratie bedeutet Stabilität nicht, dass keine Veränderungen angestossen werden sollen.

Wie die Institutionen auf «Weckrufe» reagieren

Es bedeutet, dass die Mechanik der politischen Institutionen verlässlich und transparent sein muss. Dies ermöglicht ihnen nämlich auch erst das Handeln in einer Demokratie.

Noémie Roten, die Direktorin der Service Citoyen-Initiative, hat den Skandal um gefälschte Unterschriften ins Rollen gebracht.

Es wäre nachvollziehbar, wenn Roten von den Schweizer Behörden etwas genervt wäre. Aber im Interview mit mir sagte sie, sie finde solche «Weckrufe» nicht schlecht für eine Demokratie. Die Frage sei, wie damit umgegangen wird.

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Werden Massnahmen ergriffen? Die kritischen Stimmen nicht einfach abgetan? Wird transparent kommuniziert? Das ist entscheidend.

Hohes Vertrauen trotz falscher Wahlresultate 2023

Die OECD-Befragung, bei der die Schweiz so gut abschnitt, fand in der Schweiz vom 25. Oktober bis kurz vor Ende November 2023 statt.

Das war direkt nach den nationalen Wahlen, in der die Schweizer Behörden falsche Ergebnisse kommuniziert haben. Drei Kantone haben falsche Wahlresultate errechnet. Den Fehler berichtigt haben die Behörden: am 25. Oktober.

Womöglich war es dem Zufall geschuldet, dass die falschen Resultate zu keiner Sitzverschiebung geführt haben, dass dies zu keinem grösseren Aufschrei führte. Womöglich war es aber auch dem Fakt zu verdanken, dass die Behörden klar den Fehler benannten und dass öffentlich transparent gemacht worden ist, wie es zum falschen Resultat kam.

Stabilität in autoritären Gesellschaften

Doch Stabilität alleine schafft kein Vertrauen.

Es kann bekanntlich auch in autoritär regierten Gesellschaften Stabilität geben. Ja, vielleicht ist es gerade eine Sehnsucht nach Stabilität, die dazu führt, dass in vielen Ländern mehr Leute autoritäre Parteien wählen. Selbst, wenn deren starke Männer notorische Lügner sind.

Wer Vertrauen fassen kann, wählt eher nicht Disruption oder Populismus. Gesellschaftliches Vertrauen generiert tatsächlich auch demokratische Stabilität.

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Die grosse Mehrheit der Menschen in der Schweiz – das zeigte kürzlich wieder eine Umfrage – hält die Schweizer halb-direkte Demokratie für das beste System der Welt. Die Bevölkerung ist Teil der politischen Auseinandersetzung – und lernt im Prozess auch, was diese genau bedeutet.

Womöglich versteht man den Beitrag von Initiativ- und Referendumsrecht für das Zusammenkommen als Gesellschaft manchmal falsch. Oft werden die Volksabstimmungen vor allem dafür geschätzt, dass sie eine gesellschaftliche Debatte über ein Thema ermöglichen und dann einen Entscheid herbeiführen. Im Sinne von: Schön, dass wir darüber geredet haben, aber jetzt sagt die Mehrheit, wo es lang geht.

Der Unmut der Minderheit

Doch vielleicht ist nicht der Mehrheitsentscheid die grösste Auswirkung der direktdemokratischen Instrumente für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Vielleicht ist es genau umgekehrt: Die Minderheit kann ihren Unmut einbringen und die Gesellschaft muss sich damit befassen.

Wie entscheidend direktdemokratische Rechte für die Zufriedenheit der politischen Minderheit sind, ist untersucht: Der Politologe Julien Jaquet hat für seine Dissertation die direkte Demokratie in der Schweiz und in US-Bundesstaaten untersucht.

In seiner Studie zeigte sich, dass besonders häufig republikanische Bürger:innen in demokratischen Staaten auf Volksabstimmungen setzen. Jaquet kam zum Schluss, dass es mehr Volksabstimmungen gibt, wenn die Bürger:innen besonders schlecht repräsentiert sind.

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Wenn Bürger:innen nicht angemessen repräsentiert sind, seien Volksabstimmungen eine Möglichkeit die Repräsentationslücke zu schliessen, sagte mir Jaquet.

Die Rechte der Andersdenkenden in der direkten Demokratie

Dass alle Bürger:innen – ob ein Sozialdemokrat an der Gemeindeversammlung im konservativen Berner Oberland oder eine Rechtsbürgerliche in der linken Stadt Biel – eine Abstimmung herbeiführen können.

Wahrscheinlich werden diese Anliegen vor der andersdenkenden Mehrheit im Lokalen krachend verlieren, doch vielleicht verfängt das Argument und führt zu einem Kompromiss. Und vielleicht setzt sich die querstehende Idee auch durch.

Bleibt die Idee erfolglos, passt die lokale Regierung zumindest auf, in ihrer Arbeit wenig Fehler zu machen. Weil jene mit einer anderen Meinung Rechte haben, ihre Rechte nutzen und diese auch garantiert sind.

Verbundene Wahrnehmung des Gemeinwesens

In der Schweiz ist es um den Faktor Vertrauen wohl darum relativ gut bestellt, weil die Bürger:innen erleben, dass die Demokratie ein Netz ist, in dem Medien ebenso eine Funktion einnehmen wie ehrenamtliches Engagement, Vereine und Gewerkschaften.

Die Schweiz ist ein Netz, an dem Bürger:innen ebenso ziehen können wie die Regierung. Und in manchen, gar nicht so seltenen, Momenten ist das eigene Ziehen stärker als jenes der Regierung. Dann nämlich, wenn diese am Abstimmungssonntag einen Denkzettel erhält.

Das bedeutet auch, dass man in der Schweiz spüren kann, wie die lokale, kantonale und nationale Politik verbunden ist. Wer der lokalen Regierung vertraut, versteht das Bundesparlament und die Regierung deswegen nicht unbedingt, aber er oder sie erlebt, dass die lokale Regierung Teil desselben Gemeinwesens ist. Der Faktor Vertrauen ist in der Schweiz ein Zusammenspiel aller Ebenen.

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Editiert von Giannis Mavris

Grundlage dieses Beitrags ist ein Vortrag, den Benjamin von Wyl als Vertreter von SWI swissinfo.ch im März 2025 am Politforum Thun gehalten hat.

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