Demokratie als Drahtseilakt
Debatten voller Erkenntnisse, Informationen aus erster Hand, die es nicht in die Spalten der internationalen Medien schaffen: Das brachte der Weltgipfel der Demokratie in Tunis. Immer wieder appellierten die tunesischen Teilnehmer, darunter hochrangige Politiker, gegenüber den wiedererstarkten alten Seilschaften wachsam zu sein.
Ein riesiger Haufen Puzzleteile. Zusammengesetzt sollen sie einmal ein prächtiges Gesamtbild ergeben. In der Mitte ist das Motiv schon gut erkennbar. Aber darum herum klaffen grosse Lücken – Leerstellen. Teile wechseln plötzlich das Motiv, sie passen nirgends. Andere verschwinden, von Geisterhand entfernt.
Willkommen in Tunesien! Willkommen im Land, das 2011 nach jahrzehntelanger Autokratie und Diktatur Richtung Demokratie aufgebrochen ist. Willkommen im einzigen Land des «arabischen Frühlings», in dem nach erfolgreicher Revolution die vom Volk erkämpften Freiheit und Recht in eine moderne Verfassung gegossen wurden.
Um beim Bild zu bleiben: Der Prozess dieser Transformation gleicht dem Zusammensetzen eines gigantischen Puzzles. Gefragt sind ein langer Atem, der Blick fürs Ganze und Aufmerksam- oder vielmehr Wachsamkeit.
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Die Schlussdeklaration von Tunis
Am viertägigen Global Forum on Modern Direct Democracy, das am 17. Mai 2015 in Tunis zu Ende ging, nahmen rund 450 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus 38 Ländern und vier Kontinenten teil, angeführt vom tunesischen Premierminister Habib Essid und mehreren Ministern der aktuellen und der ehemaligen Regierung.
Langer Prozess
Sie und Parlamentarier, Vertreter der Parteien, Gewerkschaften und Repräsentanten der Zivilgesellschaft, Intellektuelle, Demokratie-Aktivisten, Journalisten und Blogger stimmten in Tunis überein, dass der eingeschlagene Weg lang, steinig und von Rückschlägen geprägt sein werde.
Dezentralisierung ist eine der wichtigsten Errungenschaften der sozialen und demokratischen Revolution. Sie ist im Kapitel 7 der neuen tunesischen Verfassung verankert. Die Frage, wie die Verlagerung von Macht vom Zentrum hinaus zu den Menschen in den Gemeinden und Provinzen gesetzlich verankert und praktisch umgesetzt werden soll, war zentrales Thema des Weltgipfels.
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@slim404, tunesischer Pirat der #Freiheit
Wie unerprobt die junge Demokratie Tunesien noch ist, illustrierte sogleich die hochkarätig besetzte Eröffnungsrunde. Sie vereinte Mokhtar Hammami vom Innenministerium, unter dem gestürzten Ben Ali der gefürchtete Arm der Diktatur, und Vertreter der wichtigsten Parteien. Diese deckten Hammami mit Vorwürfen ein, die Reformen zu verschleppen, insbesondere die Abhaltung von Lokalwahlen. Postwendend verkündete der Angegriffene, dass sein Ministerium vier Gesetzespakete ausgearbeitet habe, um die Dezentralisierung auf die nötige legale Basis zu stellen. «Dies ist aber nicht euer Job, das ist unsere Arbeit!», begehrten die Parlamentsabgeordneten auf, worauf Hammami wiederum konterte, dass seitens der Volkskammer keinerlei entsprechende Vorschläge eingegangen seien.
Vorbildliche Debatte
Die Situation spiegelt den Widerspruch, der dem gesamten Transformations-Prozess der tunesischen Gesellschaft zu Grunde liegt: Lautes Rufen nach Recht, Freiheit und Besserung, und das sofort. Doch das Bewusstsein, dass Demokratie auch aktive Verantwortung bedeutet, ist noch nicht ausgeprägt. Der passiv-fatalistische Reflex, dass «Tunis» es richten solle, ist noch omnipräsent.
Die Debatte hatte noch in anderer Hinsicht Modellcharakter. Trotz Schlagabtausch erwiesen sich die Exponenten mit ihrem Respekt gegenüber dem politischen Gegner als äusserst würdige demokratische Vorbilder. Mehdi Ben Mimoun, Agronomie-Professor und lokaler Veranstalter des Forums, wies auf ein weiteres Detail hin. «Samir Ettaieb von der strikt antireligiösen Massar-Partei (Ex-Kommunisten, die Red.) verwendete die Hälfte seiner Rede darauf, seinem Kollegen Imed Hammami von der gemässigt islamischen Ennahdha zu danken und ihn in höchsten Tönen zu loben. Dies für dessen Beitrag als Mitglied der verfassunggebenden Versammlung bei der Ausarbeitung von Kapitel 7 über die Dezentralisierung.» Eine solche Eloge an die Adresse eines Gegners aus einem völlig entgegengesetzten Lager sei noch vor zwei Jahren undenkbar gewesen, so Mimoun.
Zudem erhielt die Diskussion eine wenn auch kleine, aber nicht unwichtige historische Dimension: Sie markierte den Startschuss zur öffentlichen Debatte, wie nun genau die Dezentralisierung der politischen Struktur Tunesiens durchzuführen sei.
Dunkle Schatten
Diesen kleinen, symbolisch bedeutsamen Anzeichen einer neuen politischen und mentalen Demokratie-Kultur stehen aber riesige Probleme und Bedrohungen entgegen, auf die sämtliche Referenten wieder und wieder hinwiesen.
Katastrophale Wirtschaft in Zahlen
Tunesien ist ein Land mit sehr viel Potenzial.
Über 60% der rund 12 Mio. Einwohner sind unter 35 Jahre alt.
Sehr viele von ihnen verfügen über eine gute Bildung (Uni-Abschluss).
Die Arbeitslosigkeit beträgt rund 15%. Die Jugendarbeitslosigkeit ist mit 30% rund doppelt so hoch.
Fast die Hälfte aller Hochschulabgänger hat keinen Job (45% oder 350’000 Personen) und keine echte Perspektive auf ein würdiges Leben.
Ende 2014 gab das Innenministerium die Zahl der im Ausland (Syrien, Irak) kämpfenden tunesischen Dschihadisten mit 3000 an. Kein anderes Land stellt so viele Mitglieder von islamistischen Terror-Milizen.
Erstens die Wirtschaft. Ihre Lage ist katastrophal. «Das Bild im Ausland von der geglückten Revolution, die man unterstützen muss, steht in krassestem Gegensatz zur Realität in Tunesien», hielt Salem Labiadh fest. Der Soziologe und Autor, 2013/14 auch Bildungsminister, verglich Tunesien punkto Verschuldung gar mit Griechenland. Seit 2011 ist der Schuldenberg um mehr als 20 Mrd. Dinar angewachsen (ca. 10 Mrd. Franken). 2015 werden weitere 7 Mrd. Dinar (ca. 3,5 Mrd. CHF) dazukommen. «Der Staat ist gezwungen zu privatisieren, muss also Unternehmen, Immobilien und Grundstücke verkaufen», so Labiadh.
Zweitens die alten Seilschaften der Profiteure und Günstlinge, die am Milliarden-Raub Ben Alis am Volk partizipiert hatten. Zu ihnen zählen neben den Sicherheitskräften vor allem die Eliten aus Finanz und Wirtschaft. «Sie bestrafen die Revolution und den neuen Staat mit einem nun schon mehrjährigen Investitions-Stopp», sagte der unabhängige Politiker Mehdi Mabrouk. Der Intellektuelle war 2011 bis 2013 Kulturminister Tunesiens.
Nach den Wahlen vom Oktober 2014 ziehen die alten Kräfte schon wieder heftig an den Strippen. Und das ganz öffentlich. «Im Parlament haben sie praktisch wieder 50% der Sitze. Das erzeugt ein flaues Gefühl in meinem Magen, ja, ich schliesse gar eine Konterrevolution nicht aus», sagt Mabrouk. Er selbst sei daran nicht ganz unschuldig, wie er einräumte. Denn die Regierung, der er angehört habe, habe den Fehler begangen, die kompromittierten Figuren nicht strafrechtlich aus dem Verkehr zu ziehen.
Trauerspiel statt vierte Gewalt
Drittens die Medien. Die Rolle, die sie grösstenteils spielen wurde als himmeltraurig beschrieben. Nichts von vierter Gewalt, die über die Wahrung und Weiterentwicklung der Errungenschaften und Transparenz wacht. Stattdessen Missbrauch durch «les anciens», also die alten, kompromittierten Kräfte. Konkret: öffentliche Lächerlichmachung politischer Gegner und Manipulation. «Genau wie unter Ben Ali», hielt eine junge Sprecherin einer zivilgesellschaftlichen NGO frustriert fest.»Wir haben zwar jetzt eine pluralistische Medienlandschaft. Aber die zentralen politischen Fragen werden gar nicht mehr aufgegriffen», beklagte Lotfi Hajji, Leiter der Tunis-Redaktion des TV-Senders al Jazeera. «Statt Vertrauen in die neuen Institutionen aufzubauen, rissen sie einen tiefen Graben zwischen Medien und Bürgern. Davon zeugen die über 300 Übergriffe von Bürgern auf Journalisten im letzten Jahr», sagt der Journalist.
Informationen aus erster Hand, von Akteuren, die teils höchste Stellen besetzen oder besetzten, haben am Demokratie-Gipfel in Tunis das westlich schöngefärbte Bild einer erfolgreichen Bürgerrevolution arg retouchiert. In Anspielung auf den greisen Präsidenten Beji Caid Essebsi sagte Salem Labiadh, der sensible Intellektuelle und Autor: «Die Revolution ist wie ein junges Mädchen, das man mit einem 80-jährigen Greis zwangsverheiratet. Die Regierung vertritt nicht mehr die Revolution und die Helden, die dafür gefallen sind.» Es liegt an den Menschen in Tunesien, dies wieder zu korrigieren. Damit der nächste Schritt erfolgen kann. Und diesem wiederum müssen noch viele folgen.
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