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«In Armenien kann heute jeder sagen, was er will»

Nikol Pashinyan, Premierminister Armeniens
Vor gut einem Jahr führte er die Massenproteste an, im legendären Tarnfarben-T-Shirt. Heute ist Nikol Pashinyan, ein ehemaliger Journalist, Premierminister Armeniens. Weltweit applaudieren ihm die Experten für die Demokratisierung des kleinen Landes im Kaukasus. Reuters / Vincent Kessler

Seit dem unblutigen Umsturz vor gut einem Jahr führt Premierminister Nikol Pashinyan Armenien Richtung Demokratie. Der ehemalige Oppositionsführer geht den Weg behutsam, aber konsequent. Doch alte Seilschaften versuchten, die demokratisch gewählte Regierung zu destabilisieren, sagt die Armenierin Sona Shaboyan, die in Zürich lebt.

Dieser Beitrag ist Teil von #DearDemocracy, der Plattform für direkte Demokratie von swissinfo.ch. 

Sechsmal ist die ausgebildete Konzertpianistin in den letzten zwölf Monaten in ihr Heimatland gereist. Was sie sieht, kann sie mit Stolz erfüllen: Armenien zählt zu den wenigen Good News im Bereich internationale DemokratieExterner Link. Aber der Fortschritt verläuft auf fragilem Grund.

swissinfo.ch: Sie kommen soeben von Armenien zurück. Wie ist die Stimmung ein Jahr nach der Revolution?

Sona Shaboyan: Sie ist gespalten. Auf der einen Seite sind viele Menschen immer noch sehr euphorisch und optimistisch, dass sie den richtigen Weg gegangen sind.

Sona Shaboyan
Sona Shaboyan ist ausgebildete Konzertpianistin und lebt und unterrichtet seit 15 Jahren in Zürich. Sie ist Gründerin eines armenischen Kulturvereins sowie von Heres Wines, eines Vertriebs von Weinen aus ihrer Heimat. zVg

Aber ein Teil der Bevölkerung ist unzufrieden und beginnt, sich zu beschweren. Ein Jahr ist einerseits eine lange Zeit. Andererseits ist sie zu kurz, um im Land umfassende Verbesserungen zu erzielen.

swissinfo.ch: Die Demokratie Schweiz entstand auch nicht innerhalb eines Jahres.

S.S.: Genau. Wie kann Pashinyan in einem Jahr ein Land in Ordnung bringen, das 30 Jahre permanent und systematisch gespalten und ausgeraubt, man kann auch sagen: richtiggehend demontiert worden war?

Die Unzufriedenen aber sind ungeduldig und erwarten, dass jeder Tag Fortschritte bringen muss. Geduld zählt nicht zu den Tugenden der Armenier.

«Es ist eine titanische Aufgabe, die sich Pashinyan und sein Team auf ihre Schultern geladen haben.»

Aber wer genau hinschaut, weiss, dass es eine titanische Aufgabe ist, die sich Pashinyan und sein Team auf seine Schultern geladen haben.

swissinfo.ch: Was hat sich verändert?

S.S.: Es herrscht echte Freiheit. Alle können sagen und tun, was sie wollen, ohne Angst haben zu müssen, dass der Staat sie dafür bestraft. Die Opposition, also die Günstlinge des gestürzten Machthabers Sersch Sargsyan, sind überaus aktiv und omnipräsent. Denn 80% der Medien, insbesondere das ehemalige staatliche Fernsehen, sind immer noch in ihrer Hand.

Sie versuchen mit aller Kraft, die jetzige Regierung kaputt zu machen. Dies auch mit Fake News. Sie tun dies ohne jede Angst, dass ihnen etwas passiert. Das alte Regime hätte jemandem, der solche Kritik übt, sofort zum Schweigen gebracht.

swissinfo.ch: Gibt es neue Medien, welche die Demokratisierung stützen?

S.S.: Zum Glück ja. Insbesondere Facebook ist sehr wichtig. Hier finden die Menschen sehr viele Informationen, und man kann aus ihren Kommentaren die Stimmung ablesen. Die völlige Desinformation des Fernsehens ist sehr gefährlich, weil die negativen Informationen das Vertrauen der Menschen in die Regierung Pashinyan aushöhlen könnte.

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Was aber für mich das Wichtigste ist: Viele haben begonnen, selber zu denken und Entscheidungen zu fällen. Zuvor hatten nur sehr wenige Menschen den Mut zu einer eigenen Meinung gehabt.

swissinfo.ch: Schlägt die Demokratisierung auf den Alltag der Menschen durch? Hat sie ihnen konkrete Verbesserungen gebracht?

S.S.: Die Renten wurden erhöht. Zwar nicht in riesigem Umfang, aber immerhin. Ebenso die Löhne von Ärzten, Lehrern, Militärs und Polizisten sowie weiteren Berufsgruppen. Demgegenüber wurden die Steuern für alle um knapp 25% gesenkt, ebenso die Zinsen für Bankkredite, um die Wirtschaft anzukurbeln.

Die Oligarchen, die nach wie vor über die Supermärkte und andere Geschäfte verfügen, haben dagegen die Preise künstlich erhöht.

swissinfo.ch: Die demokratischen Parteien, die Pashinyan stützen, erhielten bei den Parlamentswahlen im letzten Dezember 70% der Stimmen. Gibt es schon Gesetze für mehr Demokratie, also Mitbestimmung und Partizipation?

S.S.: Ja, es gab etwa Wahlen auf unteren Ebenen. Etwas ist mir aufgefallen: Die Menschen versuchen, das Modell des Umsturzes in ihrem Alltag zu übertragen. Wenn ihnen etwas in der Fabrik nicht passt, gehen sie sofort auf die Strasse und versuchen von dort, Druck auf die Besitzer zu machen.

Sie haben verstanden, dass sie sich wehren können und dass ihre Stimme jetzt zählt. Früher hatten die Menschen keine Stimme, was zu totaler Hoffnungslosigkeit geführt hatte.

swissinfo.ch: Vor gut einem Jahr haben Sie gesagt, dass in Armenien die Zombies erwacht seien. Sind die Menschen heute schon zu 100% lebendig?

S.S.: Viele in Armenien hatten nicht so Freude an diesem Satz. Aber ja, sie sind eindeutig erwacht. Heute ist absolut transparent, wer wofür steht – die Rollen sind verteilt, was sehr positiv ist. Armenien ist ein sehr kleines Land, wo praktisch jeder jeden kennt. Da kann niemand etwas verbergen.

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swissinfo.ch: Was bietet Premierminister Pashinyan den Ungeduligen an, die quasi von jedem Tag ein Wunder erwarten?

S.S.: Ich sehe im Moment keine Gefahr, die sich aufbaut. Aber es gibt Gruppen, die ein rasches und hartes Vorgehen Pashinyans gegen den Klüngel der früheren Profiteure fordern. Sie stellen sich auf den Standpunkt, dass sich die Revolution eben gerade dadurch auszeichnet, dass die bestehenden Regeln zerschlagen werden.

Die Ungeduld der Menschen rührt auch daher, dass in Armenien niemand Erfahrung darin hat, was es genau bedeutet, wenn das Parlament neue Gesetze sorgfältig ausarbeitet. Die Menschen benützen zwar den Begriff Demokratie, aber sie wissen noch nicht so genau, was er alles bedeutet.

swissinfo.ch: Weshalb geht es nicht schneller vorwärts?

«Pashinyan ist sehr auf Rechtmässigkeit bedacht. Für ihn ist der Umsturz keine Vendetta.»

S.S.: Pashinyan aber ist sehr auf Rechtmässigkeit bedacht. Er sagt, dass der Umsturz keine Vendetta sei. Vielmehr will er zuerst Gesetze, deren Ausarbeitung Zeit benötigt.

Die Kritiker hätten am liebsten gesehen, wenn Pashinyan die Oligarchen vor einem Jahr sofort verhaftet und ihre riesigen Vermögen eingezogen hätte, um sie dem Volk zurückzugeben.

swissinfo.ch: Was genau ist der Plan Pashinyans im Umgang mit den Oligarchen?

S.S.: Allen ist klar, dass sie ihre Vermögen nicht ehrlich verdient hatten. Vor 20 oder 25 Jahren hatten sie nichts, dann auf einmal kamen sie innerhalb eines Jahrzehnts zu unermesslichen Vermögen. Eine offizielle Zahl besagt, dass sie in den letzten 20 Jahren insgesamt 30 Milliarden Dollar ausser Landes geschafft haben.

Im Vergleich zum Budgets unseres Landes sind das unglaubliche Summen. Man kann es ruhig so sagen: Armenien wurde von diesen Oligarchen vergewaltigt.

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«In Armenien sind die Zombies erwacht!»

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht «Eine riesige Revolution!» Interview mit Sona Shaboyan. Die Pianistin aus Zürich war Teil der Massenproteste in Armenien.

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Paradoxerweise spielt der Anspruch Pashinyans, die Verfolgung der Oligarchen auf eine saubere gesetzliche Grundlage zu stellen, genau diesen in die Hände: Sie können die Zeit nutzen, um weitere Gelder ausser Landes zu verschieben. Pashinyan versuchte, die Gemüter mit dem Hinweis zu beruhigen, dass die Erde rund sei und sich darauf niemand verstecken könne.

swissinfo.ch: Die Ungeduld der Menschen ist doch auch verständlich.

S.S.: Ja, absolut. Sie sind nach all den Jahren der Unrechtregimes müde und wollen, dass die Profiteure zur Rechenschaft gezogen werden, und zwar schnell.

swissinfo.ch: Der weitaus grösste Teil der Armenier lebt ausserhalb des Heimatlandes. Davon 5000 bis 6000 in der Schweiz. Wie unterstützen sie die Demokratisierung?

S.S.: Vor seiner Teilnahme am diesjährigen WEF in Davos haben wir für Premier Pashinyan in Zürich einen Empfang organisiert, um ihm den Rücken zu stärken.

Alle, die konnten, kehrten vor einem Jahr nach Erewan zurück. So auch ich. Wir spürten, dass die einmalige Chance gekommen war, das Regime zu stürzen. Andernfalls wäre sie wohl für immer weg gewesen.

Ich wurde damals angefragt, bei einer der grossen, abendlichen Kundgebungen auf dem Platz der Republik in der Hauptstadt Erewan eine Rede zu halten und den Menschen zu sagen, dass wir Armenier aus der Schweiz sie unterstützten.

swissinfo.ch: Wie war Ihr Auftritt?

S.S.: Ich war bereit und hätte mit 100’000 Menschen das grösste Publikum gehabt. Zudem war es mein Geburtstag. Aber genau an jenem Tag war Oppositionsführer Pashinyan verhaftet worden. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte: Die Menschen erhielten wie einen zweiten Atem und sagten sich: «Jetzt!»

Meine grosse Rede hat also nicht stattgefunden. Dafür etwas Grösseres (lacht).


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