«Politik ist in Taiwan kein edles Geschäft»
Sich Zeit nehmen für endlose Debatten, Geduld für lange politische Prozesse, Respekt gegenüber Andersdenkenden: Das nimmt Felice Wu aus der Schweiz mit heim nach Taiwan. Auf einer Studienreise hat die Journalistin die Demokratie Made in Switzerland kennengelernt. Taiwan, die dynamischste Demokratie Asiens, ist aber noch weit vom Mutterland der Volksrechte entfernt.
«In seiner ersten Verfassung von 1848 hat der Schweizerische Bundesstaat die Todesstrafe für politische Vergehen aufgehoben.»
Die 13 Taiwanesinnen und Taiwanesen, die beim Gerechtigkeitsbrunnen in der Altstadt Berns den Ausführungen Claude Longchamps lauschen, nehmen die Äusserung des Politikwissenschaftlers und Historikers reglos zur Kenntnis.
Auch sein Nachsatz, dass die Schweiz die Todesstrafe mit der Verfassungsrevision von 1874 gänzlich aufgehoben hatte – mit Ausnahme von Kriegszeiten – wird kommentarlos hingenommen.
Doch bei Felice Wu bleibt Longchamps Hinweis hängen. «Wieso hat er so stark betont, dass die junge Schweiz als erstes die Todesstrafe aufgehoben hat?», fragt sie mich in perfektem Englisch, als wir uns zu Fuss zur nächsten Station des Stadtrundgangs aufmachen – der Start zu einem interkulturellen Demokratiedialog.
Die 31-Jährige aus Taipeh hat Diplomatie und Soziologie studiert und schreibt heute für ein führendes Wirtschaftsmagazin Taiwans. Es ist ihr zweiter Besuch in der Schweiz – 2014 hatte sie bei einem einmonatigen Ferienaufenthalt Genf, Lausanne, Luzern und Zürich besucht.
Die Würde des Menschen
Longchamp scheint Wu’s Frage gehört zu haben, als er beim nächsten Halt sagt: «In der Demokratie ist die Würde des Menschen zentral – dafür hat die junge Schweiz mit dem Verbot der Todesstrafe ein starkes Zeichen gesetzt.»
Die Gäste aus Fernost, die auf Einladung des Schweizerischen Aussenministeriums (EDAExterner Link) das Land besuchten, machen in der Schweiz an mehreren Stationen Halt. Von Expertinnen und Spezialisten erfahren sie jeweils mehr darüber, wie die Demokratie Schweiz tickt.
Politisiert in der Sonnenblumen-Bewegung
Wie steht es in Taiwan, der dynamischsten Demokratie Asiens, mit der Todesstrafe, frage ich Felice Wu, als sich die Gruppe auf zum nächsten Stopp macht. Sie sei nach wie vor in Kraft, sagt sie. Doch habe das höchste Gericht in jüngster Zeit auch Revisionsverfahren für zum Tode Verurteilten eingeleitet. Eine Aufhebung der Todesstrafe auf der Insel sei aber kein Thema.
Engagieren Sie sich in Taiwan persönlich für mehr Demokratie?
Felice Wu: Ich war Teil der «Sonnenblumen-Bewegung», wo wir gegen den undemokratischen Abschluss des Handelsabkommens mit China protestierten.
Wie ordnen Sie die erste Abstimmung über Volksinitiativen und -referenden vom kommenden Samstag in Taiwan ein?
Felice Wu: Es ist keine Revolution, aber ein historischer Schritt in Richtung einer gefestigteren Demokratie. Erstens wurde das Abstimmungsalter von 20 auf 18 Jahre gesenkt, zweitens der Anteil der nötigen Unterschriften für das Zustandekommen einer Volksinitiative, und zwar von 5% der Stimmbürger auf 1,5%.
Drittens wurde auch das erforderliche Quorum bezüglich Mindest-Stimmbeteiligung von 50% auf 25% der Stimmbürger gesenkt. Gerade diese Halbierung der Mindestbeteiligung erhöht die Chancen, dass eine oder mehrere der Initiativen angenommen werden.
Das grosse China macht Druck
Den Erläuterungen Longchamps folgen die Gäste aus Taiwan dank einer chinesischen Simultanübersetzung. «Die Schweiz hat die Volksrechte erfunden. Aber die Zukunft der Demokratie wird in China entschieden», sagt Claude Longchamp.
Wie reagiert wohl China auf den Turbo in Sachen direkte Demokratie, den Taiwan gezündet hat, will ich von Felice Wu wissen.
Felice Wu: Peking ist alles andere als glücklich über Auf – und Ausbau der direkten Demokratie in Taiwan, denn es befürchtet, dass diese zu Selbstbestimmung über Taiwans Staatlichkeit mittels einer Volksabstimmung führen könnte.
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Im vergangenen Juli widerrief das Olympische Komitee Ostasiens auf Antrag der Volksrepublik China die Austragung der Ostasien-Jugendspiele 2019 in Taichung (zweitgrösste Stadt Taiwans, die Red.).
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Taiwan, Demokratie-Tiger Asiens mit Schweizer Genen
Der Delegierte der Volksrepublik hatte seinen Antrag mit der Abstimmung vom 24. November über die Namensänderung der taiwanesischen Olympiamannschaft begründet. Bisher starten unsere Athletinnen und Athleten unter der Bezeichnung «Chinesisch Taipei». Neu sollen sie unter der Bezeichnung «Taiwan» starten.
Zudem wurden jüngst auf den sozialen Medien auch immer mehr falsche Konten entdeckt, die Fake News über Taiwan verbreiteten.
Werden Sie am 24. November abstimmen?
Felice Wu: Ja, wie viele andere auch. Einige Vorlagen sind sehr kontrovers, dazu finden gleichzeitig Lokalwahlen statt. Im Freundeskreis debattieren wir über die Vorlagen, denn für viele die ich kenne, ist die gleichgeschlechtliche Ehe wichtiges Thema.
Was hat Sie an der Schweizer Demokratie am meisten beeindruckt?
Felice Wu: Die Menschen hier sind sehr tolerant anderen Meinungen gegenüber, und persönliche Freiheiten und Autonomie werden respektiert. Bei der Abstimmung vom 23. September haben wir in Zürich ein Lokal besucht, wo die Stimmen ausgezählt wurden.
Als wir fragten, ob Fotografieren erlaubt sei, hat der Leiter zuerst die Stimmenzählenden gefragt, ob sie einverstanden sind. Er machte sie auch darauf aufmerksam, dass sie Nein sagen könnten.
Soches wäre in Taiwan undenkbar. Wer bei uns Macht und Verantwortung hat, fragt nicht andere, nicht in der Schule, nicht im Berufsleben. Ich wünschte mir, dass unsere persönliche Autonomie stärker werden wird.
Was ist sonst noch anders?
Felice Wu: Ihr neigt zu langen Diskussionen und Debatten. Bei uns zählt Effizienz, wenn es um öffentliche Entscheide geht.
Was nehmen Sie mit nachhause?
Felice Wu: Direkte Demokratie kommt nicht einfach so, dafür braucht grosse Anstrengungen und Zeit. Hier können Verlierer an der Urne auch Sieger sein, weil der Prozess zur Umsetzung einer Initiative lange dauert.
Wir Taiwanesen können von euch lernen, geduldiger und toleranter zu sein. Nur so können eine bessere Zivilgesellschaft und eine bessere Demokratie entstehen.
Das Gespräch endet mit einem kleinen asiatischen Böller. Auf die Frage, ob sie sich vorstellen könne, selber in die Politik einzusteigen, sagt Felice Wu: «Nie. Politik ist in Taiwan kein edles Geschäft.» Peng.
Dafür verantwortlich ist in erster Linie ein Phänomen, das Taiwan mit China teilt: Korruption.
Abstimmungs-Premiere in Taiwan
Am 24. November 2018 stimmen die 19 Millionen Stimmberechtigten Taiwans über nicht weniger als zehn nationale Volksinitiativen ab. Das sind weit mehr, als jemals in der Schweiz an einer Abstimmung zur Debatte standen. Die Themen sind:
● gleichgeschlechtliche Ehe (mehrere Vorlagen);
● Berücksichtigung der Interessen von Schwulen und Lesben bei der Erziehung zur Gleichstellung der Geschlechter;
● Taiwan als neue offizielle Bezeichnung der Delegationen an Olympia (bisher: Chinesisch Taipeh);
● Ernährungssicherheit (Verbot von Lebensmittel-Importen aus der japanischen Region Fukushima);
● Verbot vom Bau und Ausbau von Kohlekraftwerken.
Für die Annahme einer Vorlage müssen zwei Hürden genommen werden: a) absolute Stimmenmehrheit und b) eine Mindest-Stimmbeteiligung von 25%.
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