«Tränengas und Gummischrot – so begrüsst uns die eigene Regierung»
Über 100'000 Rumäninnen und Rumänen aus der ganzen Welt haben am 10. August 2018 auf dem Siegesplatz in der Hauptstadt Bukarest gegen die korrupte Regierung demonstriert. Der Protest, an dem auch Gabriela Mirescu aus Freiburg teilnahm, endete mit einem brutalen Polizeieinsatz.
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Seither kehren jeden Abend Zehntausende auf den Platz zurück, tröten Vuvuzelas und rufen «Jos Governul – nieder mit der Regierung!»
Ihr Zorn gilt der grassierenden Korruption in der rumänischen Politik und der sozialliberalen Regierungskoalition. Diese versucht seit anderthalb Jahren auf verschiedenen Wegen, die Korruption de facto zu legalisieren.
Die Demonstrierenden schwingen aber nicht nur rumänische Flaggen, sondern auch jene Kanadas, Deutschlands, Frankreichs und Spaniens. Denn zum Protest aufgerufen haben Exilrumänen aus der ganzen Welt.
Im Flaggenmeer versteckt findet sich auch ein einsames Schweizerkreuz. Auch aus der Schweiz sind einige Rumänen extra zum Protest angereist. Eine von ihnen ist die 40-jährige Freiburgerin Gabriela Mirescu, die seit 17 Jahren in der Schweiz lebt. Im Interview schildert sie, wie sie die Ereignisse erlebt hat.
swissinfo.ch: Sie sind in der Nacht auf den 11. August erst um fünf Uhr in der Früh in Ihr Hotelzimmer gekommen. Weshalb?
Gabriela Mirescu: Ich wäre gerne früher ins Bett gekommen, aber die rumänische Polizei hat das verhindert. Eigentlich war es ein ruhiger Abend. Dort, wo ich stand, standen viele Familien, Kinder und ältere Leute. Trotzdem wurden wir ab etwa 23 Uhr immer wieder mit Tränengas eingedeckt.
Die Polizei schoss hoch in den Himmel, das Gas sank dann auf uns herab. Mich schockierte das. Bisher habe ich so etwas nicht erlebt. Ich wusste nicht einmal, wie Tränengas wirkt.
swissinfo.ch: Trotzdem sind Sie beim Protest geblieben.
G.M.: Gerade, als ich den Eindruck bekommen habe, dass die Leute langsam nach Hause gehen, rannten von hinten Menschen auf mich zu. Ich musste ebenfalls rennen und dann war ich eingekesselt. Die Polizei schoss weiterhin Tränengas – jetzt aber auch Wasser und Gummischrot.
Die Demonstrierenden trugen Flipflops. Die Polizei kam mit Pferden und Hunden. Eine Stunde davor haben Demonstrantinnen die Pferde gestreichelt. Das zeigt doch, wie unverhältnismässig dieses Polizeiaufgebot war. Seit diesem Erlebnis bin ich noch wütender, obwohl ich bereits seit anderthalb Jahren wütend bin.
swissinfo.ch: Seit Anfang 2017 regiert die Koalition aus der sozialdemokratischen PSD und der liberalen ALDE. Direkt nach Amtsantritt versuchte sie, Amtsmissbrauch per Eildekret zu legalisieren. Monatelange Proteste konnten das verhindern. Aber auch davor erlebte Rumänien unzählige Korruptionsskandale. Wieso macht Sie diese Regierung wütender als deren Vorgänger?
G.M.: Als Politologin hat mich Politik schon immer interessiert, aber bis 2017 war ich bloss Beobachterin. Wie viele andere Rumänen war ich von der Unverschämtheit dieser Koalition überrascht: Das Eildekret war im persönlichen Interesse des PSD-Präsidenten Liviu Dragnea.
Vielleicht wären aber nicht so viele auf die Strasse gegangen, wenn sie davor keine Hoffnung geschöpft hätten. Vor den Wahlen 2017 regierte eine vom Staatspräsidenten eingesetzte Expertenregierung. Zum ersten Mal diente die Politik nicht nur den Macht- und Geldinteressen der Amtsinhaber. Der Rückschritt nach der Expertenregierung war umso harscher.
swissinfo.ch: Und seither haben Sie sich von der Beobachterin zur Aktivistin gewandelt?
G.M.: Nach den Wahlen hatte ich zum ersten Mal den Impuls, vom Sofa zu springen – ich bin tatsächlich von meinem Sofa gesprungen. Ich musste etwas tun! Zur ersten Kundgebung in Fribourg, die ich organisiert hatte, kamen bloss acht Leute. Also vernetzte ich mich erstmals mit anderen Rumäninnen und Rumänen in der Schweiz.
Ich fand in Zürich engagierten Menschen, mit denen ich seither zig Mal auf der Zürcher Rathausbrücke und auf dem Bundesplatz gegen die Korruption und die miteinhergehende Aushöhlung der Justiz in Rumänien demonstriert habe. Meistens waren wir nur zu zehnt, aber wie wichtig diese Aktionen sind, spüre ich erst jetzt in Bukarest. Oft wurde ich während des Protests deswegen angesprochen. Die Leute hier verfolgen, was wir machen auf Facebook.
swissinfo.ch: Die Proteste 2017 konnten das Eildekret stoppen, aber die rumänische Regierung findet neue Wege, um die Unabhängigkeit der Justiz auszuhöhlen. Glauben Sie, dass diese neuen Proteste grundsätzlich etwas verändern können?
G.M.: Als Politologin bin ich mir bei dieser Frage so vielen Faktoren bewusst. Was folgt, wenn wir den Rücktritt der Regierung fordern? Was folgt auf Neuwahlen? Die Opposition ist fragil und es fehlt in der rumänischen Öffentlichkeit an echtem politischen Bewusstsein. Seit 28 Jahren, seit dem Ende der Diktatur, ist «Politiker» in Rumänien ein Schimpfwort. Ich weiss aber, dass die rumänische Regierung die Zivilgesellschaft und die Diaspora fürchtet.
swissinfo.ch: Es war die rumänische Diaspora, die zu den jüngsten Protesten aufgerufen hat. Welche Bedeutung haben die Rumäninnen und Rumänen, die im Ausland leben?
G.M.: Die Diaspora ist stark. Dank einer überwältigenden Mehrheit von Exilrumänen wurde 2014 der der Opposition nahestehende Staatspräsident Iohannis überhaupt gewählt.
In Rumänien herrscht kein Krieg, aber trotzdem sind wir eine der grössten Diaspora-Communitys Europas: mehr als vier Millionen leben ausserhalb des 20-Millionen-Einwohner-Lands. Regierungsnahe Kreise haben uns vor dem 10. August in den Medien nur deshalb als «Lumpen-Diaspora» bezeichnet, weil sie wissen, dass wir viele sind.
swissinfo.ch: Weshalb ist die Diaspora denn grossmehrheitlich gegen die jetzige Regierung?
G.M.: Wir sind eben keine «Lumpen-Diaspora», sondern haben Zugang zu internationalen Medien, erleben in Westeuropa politische Debatten, die echte Debatten sind.
Auch die Propaganda der regierungsnahen Fernsehsender erreicht uns nicht. Die rumänische Bevölkerung wird mit Fake News und falschen Themen bombardiert. Es gibt zum Beispiel nicht mal eine öffentliche Debatte über die Gründe, weshalb so viele auswandern.
swissinfo.ch: Was sind denn die Gründe dafür?
G.M.: Bei mir selbst war es Abenteuerlust nach dem Studium, aber viele wandern aus, weil sie hier keine Perspektive haben. Sie gehen ins Ausland, um zu studieren und arbeiten. Insgesamt vier Milliarden Euro schicken Rumänen aus der ganzen Welt jedes Jahr nach Hause, um ihre Familie zu unterstützen.
In Rumänien gibt es so viele Hürden für alle, die nicht zu den korrupten Zirkeln gehören. Selbst um Rechnungen zu bezahlen, muss man bürokratische Hürden überwinden. Während dem Protest weinte eine Frau, nachdem sie erfahren hatte, dass ich im Ausland lebe. Sie drückte mich an sich und sagte: «Ich umarme dich, bitte kommt nicht mehr zurück. Es gibt hier nichts Gutes.»
Egal, wo wir leben: Wir können nicht einfach zugucken. Wir müssen uns um Rumänien kümmern, denn Leute wie sie leben ja noch hier. Das antwortete ich auch ihr. So erlebe ich die Proteste: als Chance für Dialog zwischen normalen Menschen, für den Dialog zwischen Rumäninnen und Rumänen aus der Diaspora und solchen, die im Land leben.
Ich führe hier sehr viele, sehr emotionale Gespräche und hoffe, das geht allen so. Wir müssen uns wiederfinden, auch wenn wir räumlich getrennt sind. Wenn die Proteste diesen Austausch bewirken, reicht mir das persönlich – auch wenn die Gespräche am ersten Abend vom Tränengas unterbrochen worden sind.
swissinfo.ch: Wird der unverhältnismässige Polizeieinsatz am ersten Abend am Ende bewirken, dass die Proteste länger dauern?
G.M.: Ich glaube schon. Die Weggegangenen sind aus der ganzen Welt zurückgekehrt, um Stellung zu beziehen. Die eigene Regierung begrüsst uns mit Tränengas und Gummischrot. Diese Gewalt macht uns nur noch lauter. Dieser Polizeieinsatz wird in die Geschichte Rumäniens eingehen.
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