Für die Demokratie gab es 2018 wieder Hoffnung. Dies vor allem dank weltweit gestiegener politischer Partizipation: Mehr Menschen konnten abstimmen oder wählen. Die Schweiz ist weiter Spitze, obwohl sie einen Platz eingebüsst hat. Der Grund: sinkende Beteiligung. Zu diesem Schluss kommt der neuste Demokratie-Index des "Economist".
Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht
5 Minuten
Domhnall kommt ursprünglich aus Irland und arbeitete in verschiedenen europäischen Ländern in der Forschung und als Autor, bevor er 2017 zu swissinfo.ch stiess. Er befasst sich in erster Linie mit direkter Demokratie und Politik und ist normalerweise in Bern.
Viel und gern wird seit drei Jahren vom Rückgang der Demokratie in der Welt geredet und geschrieben. Gemäss des Demokratie-Index der Economist Intelligence UnitExterner Link (EIU), der am Mittwoch publiziert wurde, konnte dieser zwar nicht gestoppt, aber wenigstens «angehalten» werden.
Das in London ansässige Magazin widerspricht in seinem jährlich publizierten Vergleich verschiedenen aktuellen Berichten, die von einem baldigen Ende von Liberalismus und Bürgerrechten sprechen. 2018 hat der Demokratiegrad zwar in 42 Ländern abgenommen, in 50 jedoch zugenommen, weshalb der globale Gesamtwert laut den Autoren stabil blieb.
Der Hauptgrund, warum ein dreijähriger negativer Trend aufgehalten werden konnte, findet sich in der Kategorie «politische Partizipation»: Die Wahlbeteiligung, die Mitgliedschaft in einer Partei, das Engagement in den Medien und die Alphabetisierung von Erwachsenen sind alles Punkte, die weltweit zugenommen haben.
Ausser im Nahen Osten und in Nordafrika hat die Partizipation in allen Weltregionen zugenommen. Der Grund liegt oft in einem hohen Misstrauen gegenüber traditionell gewählten Regierungen.
Ein deutliches Zeichen dafür war laut der EIU die hohe Beteiligung bei den US-Halbzeitwahlen, den Midterms. Ein weiteres Zeichen, dass die Demokratie noch lange kein Auslaufmodell ist, ist das historisch hohe Niveau der politischen Partizipation der Frauen.
Schweiz büsst Plätze ein
Überraschenderweise verzeichnete die Schweiz ihr bisher schlechtestes Resultat in der Kategorie Partizipation – trotz ihrer regelmässigen Abstimmungen und Volksinitiativen. Die anderen vier Kategorien sind Wahlprozess, Regierungsführung, politische Kultur und bürgerliche Freiheiten.
Mit 7,78 Punkten bei der Partizipation schlägt die Schweiz zwar knapp die USA, liegt aber weit hinter dem Spitzenreiter Norwegen, das hier eine perfekte Zehn hinlegte. Auch im Gesamtklassement liegt Norwegen an der Spitze, gefolgt von Island und Schweden.
Mehr
Mehr
Der Schein trügt: Die Demokratie gewinnt
Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht
Verschiedene politische Ereignisse haben in der letzten Zeit den Eindruck erweckt, dass sich die Demokratie weltweit auf dem Rückzug befindet.
Die Schweiz kam zwar auf hervorragende 9,03 Punkte, büsste gegenüber letztem Jahr aber einen Rang ein und fiel auf den zehnten Platz zurück, während Deutschland Platz 13 und die USA Platz 25 belegen. Frankreich und Italien rangieren noch tiefer.
Laut Danielle Haralambous, leitende Analystin beim EIU für Grossbritannien und die Europäische Union, ist der Abstieg der Schweiz in den letzten Jahren hauptsächlich der geringen Beteiligung an Abstimmungen und Wahlen geschuldet.
Auch wenn das Land bei vielen Aspekten der Partizipation gut abschneide (von Frauen im Parlament bis zur Integration von Minderheiten) und die Existenz direktdemokratischer Instrumente die Schweizer Punktezahl erhöht, habe die «Abstimmungsmüdigkeit» durch viele, oft komplexe Themen dazu geführt, dass die Schweiz hinter Länder gefallen sei, die in diesem Bereich weiter zulegen würden, so Haralambous.
Kritische Stimmen
Doch laut Bruno Kaufmann, Korrespondent für globale Demokratie von swissinfo.ch, ist die Methodologie der EIU irreführend. Es sei ein Fehler, regelmässig Länder wie die Schweiz – wo das Stimmvolk bis zu viermal jährlich zur Urne gerufen wird – und Schweden zu vergleichen, wo nur alle paar Jahre kombinierte Abstimmungen stattfinden würden, sagt er.
Weil man so Äpfel mit Birnen vergleiche, bilde die Rangliste nicht wirklich die Realität ab, sagt Kaufmann. Der Index sei vielmehr ein «quantitatives, oberflächliches Bild für Politikwissenschaftler».
Auch wenn die Stimmbeteiligung in der Schweiz relativ tief ist (unter 50% bei nationalen Vorlagen), sind sich die meisten Experten einig, dass dies eine Folge der Häufigkeit und Komplexität der Initiativen und Referenden ist. Doch das würde die Qualität der Abstimmungsresultate nicht beeinträchtigen, sagen sie.
Laut Kaufmann nimmt Norwegen wegen des grossen Engagements in Gruppen wie Gewerkschaften und Bürgerorganisationen den Spitzenplatz bei der Partizipation ein. Hingegen bilde die EIU-Rangliste die Teilnahme an spezifisch schweizerischen Prozessen wie der Unterschriftensammlung für Initiativen oder Referenden nicht ab. Anders gesagt: Für die Schweiz als Weltmeisterin in Sachen direkte Demokratie hätten die Autoren des Demokratie-Index gar keine richtigen Messkriterien.
Andere Indizes, die einen breiteren Ansatz zur Messung der demokratischen Leistung und Qualität verfolgen, kommen auf andere Resultate. So etwa der schwedische «V-Dem»-ReportExterner Link («Vielfalt der Demokratie»), wo die Schweiz auf Platz vier liegt. Oder die Studie der Bertelsmann StiftungExterner Link, wo sie Rang sechs belegt.
Externer Inhalt
(Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub)
Beliebte Artikel
Mehr
Swiss Abroad
Argentinien: Tausende Nachkommen von Ausgewanderten fordern den Schweizer Pass
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch
Mehr lesen
Mehr
«Von dramatischem Demokratie-Rückgang kann keine Rede sein»
Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht
"Von einem dramatischen Rückgang der Demokratie weltweit kann keine Rede sein!" Bruno Kaufmann zum Demokratie Index 2017 des Economist.
Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht
Demokratie lebt, vor allem auf lokaler Ebene. Dies der Befund von Demokratie-Reporter Bruno Kaufmann nach seiner 200-tägigen #DDWorldtour.
Europa bleibt verwöhntes Kind, USA machen Rückschritt
Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht
Weniger als 5% der Weltbevölkerung leben in einer echten Demokratie. Von den 19 Ländern, die als echte Demokratien gelten, befinden sich 14 in Europa und – Ironie der Geschichte – sind sieben Monarchien. Wenig überraschend stehen auf dem Podest und auf dem fünften Rang nordeuropäische Länder (Norwegen, Island, Schweden, Dänemark). Auf den vierten Rang hat…
Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht
Erstmals hat ein unabhängiges internationales Institut, die in Deutschland beheimatete Bertelsmann-StiftungExterner Link, die direktdemokratischen Volksrechte in 41 Mitgliedstaaten der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) und der EU (Europäische Union) miteinander verglichenExterner Link. Bei der OECDExterner Link handelt es sich um weltweit wirtschaftlich und demokratisch entwickelte Staaten, zu denen neben den meisten europäischen Staaten…
Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht
swissinfo.ch: International IDEAExterner Link wurde vor 20 Jahren als intergouvernementale Organisation zur Förderung der Demokratie weltweit geschaffen. Wie funktioniert diese Förderung konkret? Yves Leterme: Wir betreiben wissenschaftliche Forschung, mit deren Resultaten wir die Mitgliedstaaten bei der politischen Umsetzung ihrer Massnahmen zur Demokratieförderung unterstützen. Diese Grundlagen erarbeiten 60 bis 70 Personen an unserem Hauptsitz in Stockholm.…
«Schweiz ist der Goldstandard der direkten Demokratie»
Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht
Vergleichende Politik ist das Metier von David AltmanExterner Link. Der Professor an Pontificia Universidad Católica von Chile ist Ko-Leiter des Forschungsprogramms V-DemExterner Link. Darin hat eine 3000-köpfige Forschergemeinde 400 Indikatoren aufgestellt, anhand deren sie 200 Ländern auf den Zahn der Demokratie fühlt (mehr dazu siehe Box). 2014 veröffentlichte er das Buch «Direct Democracy Worldwide». Auf…
Demokratie – «die beste aller schlechten Regierungsformen»
Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht
Das Interview führte swissinfo.ch mit dem Leiter des Forschungsinstituts gfs.bern und seiner Kollegin Martina Imfeld. swissinfo.ch: Volksinitiativen, die in den letzten Jahren angenommen wurden, brachten oft Symbolentscheide, Stichwort Minarett-Verbot, Ausschaffung straffälliger Ausländer, Abzocker-Initiative, lebenslange Verwahrung pädophiler Straftäter und Beschränkung der Zuwanderung. Dahinter stehen aber äusserst komplexe politische und gesellschaftliche Problemstellungen. Kann die direkte Demokratie, die…
Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht
In fast allem Verfassungen der demokratischen Staaten Lateinamerikas stiess der Demokratieexperte und Buchautor Rolf RauschenbachExterner Link auf Bezüge zu jener der Schweiz. Doch in keinem Land Südamerikas werden die Bürger viermal jährlich an die Urnen gerufen wie in der Schweiz, dem Vorbild in Sachen direkter Demokratie. Rauschenbach hat an der Universität St. Gallen doktoriert und absolviert…
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch