«In Armenien sind die Zombies erwacht!»
"Es ist eine riesige Revolution, die Menschen sind wie aus ihrer Trance erwacht": So kommentiert Sona Shaboyan die Massenproteste in ihrer Heimat Armenien, die am Montag im Abgang von Ministerpräsident Sersch Sargsjan gipfelten. Die Pianistin, die seit 14 Jahren in der Schweiz lebt, hat in Erewan selbst an den Demonstrationen teilgenommen.
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Sie ist eine gefeierte Konzertpianistin. Und hat sich die sportliche Aufgabe gestellt, den Schweizerinnen und Schweizern die Weine aus ihrer Heimat schmackhaft zu machen. «Musik und Wein gehören zusammen, sie porträtieren die Seele eines Volkes am besten», sagt Sona Shaboyan.
Neben Musik und Wein liegt ihr aber eines ganz besonders am Herzen: die Freiheit ihrer Familienangehörigen in Erewan und aller Landsleute in Armenien.
Angesichts der Ereignisse in ihrer Heimat packte Shaboyan sofort die Tasche und reiste nach Erewan, um sich an den Protesten zu beteiligen und Zeuge dieser historischen Ereignisse zu werden.
Wir haben Shaboyan telefonisch in Erewan erreicht, kurz vor ihrer Rückreise in die Schweiz.
swissinfo.ch: Sie waren an den Demonstrationen mit dabei, die zum Sturz von Ministerpräsident Sargsjan geführt haben. Was hat die Menschen am meisten erzürnt?
Sona Shaboyan: Das absolut korrupte System. Es hat ein derart unglaubliches Ausmass angenommen, dass es schlicht nicht mehr zu ertragen war.
Es hatte zuvor schon zwei oder drei dramatische Situationen gegeben. Aber die Menschen waren stets wie in Trance, es herrschte 100%-ige Hoffnungslosigkeit, dass sich an diesen Zuständen je etwas ändern könnte.
Aber langsam hatten die Menschen aus ihren Fehlern gelernt. Der Sturz von Sargsjan ist jetzt aber viel schneller gekommen, als wir alle gehofft hatten.
swissinfo.ch: Wie sieht die Lage in Erewan heute aus? Gehen die Proteste weiter?
S.S.: Es ist eine Volksbewegung entstanden, die nicht mehr zu stoppen ist. Am Montag waren 700’000 Menschen auf der Strasse, das ist fast ein Drittel der ganzen Bevölkerung Armeniens.
Die Massenproteste, getragen von Schulen und Universitäten, gehen weiter. Jeden Abend strömen in Erewan Zehn- und Hunderttausende auf den Platz der Republik. Sie stammen nicht nur aus der Hauptstadt, sondern reisen auch aus den umliegenden Städten an.
Die Massenproteste sind auch deshalb wichtig, weil sie die einzige Quelle sind, wo die Menschen zuverlässige Informationen erhalten. Auf allen anderen Kanälen, insbesondere in den sozialen Medien, kursieren sehr viele verschiedene Informationen, die für Verwirrung sorgen, oft gewollt.
Politisch spielt sich das meiste immer noch hinter den Kulissen ab. Fest steht, dass das Parlament den Nachfolger von Ministerpräsident Sargsjan am 1. Mai wählt. Das armenische Volk aber hat schon lange gewählt: Nikol Pashinjan, den Anführer der Protestbewegung.
swissinfo.ch: Wie ist die Stimmung an diesen Massenprotesten?
S.S.: Es ist fast unglaublich, wie gut alles organisiert ist. Und was fast noch mehr erstaunt: Es gibt nirgends Streit, es hat keine Betrunkenen. Es herrscht eine riesige, pulsierende, harmonische und fröhliche Einigkeit: Die Menschen wollen sich endlich als solche fühlen und nicht mehr als Sklaven.
swissinfo.ch: Wie schätzen Sie die Ereignisse ein: War oder ist das eine Revolution wie in der Ukraine, als die Menschen in der Orangenen Revolution den Präsidenten Janukowitsch aus dem Land jagten?
S.S.: Es ist eine riesige Revolution! In den Köpfen der Menschen feiert ein Gedanke Renaissance: «Meine persönliche Stimme zählt!» Die Wahlen, bei denen sie jeweils ihre Stimme abgeben konnten, waren immer gefälscht.
Jetzt sind die Menschen plötzlich im Kopf wach geworden. Sie wissen, dass sie, wenn sie zusammenstehen und kämpfen, die korrupte Regierung in die Wüste schicken können. Diese Erfahrung ist fast wie ein Schock.
Der Schock ist gegenseitig: Die Regierung hätte sich die Kraft dieser Massenproteste nie vorstellen können. Sie hatte mit ihrem korrupten System Zombies erzeugt, die sich nur um ihr tägliches Brot kümmerten. Jetzt sind die Zombies wach geworden.
swissinfo.ch: Die Menschen auf der Strasse forderten den Rücktritt Sargsjan. Fordern sie auch mehr Demokratie?
S.S.: Ja, denn der Rücktritt war nur die Losung, gemeint ist aber die ganze Struktur. 60% der Parlamentsmitglieder sind Oligarchen. Sie betreiben etwa Supermarkt-Ketten und haben mit Politik rein gar nichts am Hut.
Sie müssen raus aus Regierung und Parlament und sollen ihr Business machen. Damit Demokratie entstehen kann, muss das bisherige System an der Wurzel gepackt und vollständig ausgerissen werden.
swissinfo.ch: Teile der Armee sind zu den Demonstranten übergelaufen. Wie sieht es aus mit der Repression gegen die Demonstranten?
S.S.: Die ist vorbei. Vor drei Tagen noch trat die Polizei teilweise brutal auf und verhaftete an die 1000 Menschen. Jetzt ist sie kaum mehr präsent und mischt sich nicht mehr ein. Mittlerweile haben auch viele Polizisten ins Lager der Protestierenden gewechselt.
swissinfo.ch: Wie sieht die armenische Zivilgesellschaft aus? Gibt es Organisationen, die sich für ein demokratisches Armenien einsetzen?
S.S.: Ja, aber nur vereinzelt. Es überwiegen jene Organisationen, die von staatlicher Finanzierung abhängig sind. Diese, etwa Schulen und Universitäten, erhalten klare Direktiven von oben.
Ich weiss von Schulleitern, die Eltern eingeschüchtert haben, deren Kinder an den Protesten teilnahmen. Aber jetzt beginnen sich die Menschen zu wehren.
swissinfo.ch: Nikol Pashinjan, der Führer der Protestbewegung, will Premier werden. Wer ist dieser Mann? Steht er für ein demokratischeres Armenien?
S.S.: Ja, er ist absolut vertrauens- und glaubwürdig. Pashinjan ist seit 15 Jahren Führer der Opposition, zwei Jahre davon sass er im Gefängnis. Er war immer sehr mutig und sagte, was sich niemand sonst zu sagen getraute. Das sorgte schon für Fragen, weshalb er das tun könne. Aber er ist absolut integer.
Pashinjan ist verheiratet und hat vier Kinder. Es ist auch sehr bewegend zu sehen, wie seine ganze Familie hinter ihm steht.
Mit 43 Jahren ist er noch relativ jung. Er verkörpert einen neuen Typus, der nichts mit den bisherigen Regierenden am Hut hat. Diese verkörpern noch die alte, sowjetische Schule.
Die Ereignisse in Erewan
2015: Das Volk sagt Ja zu einer Verfassungsreform, die dem Amt des Ministerpräsidenten mehr Macht verleiht.
2018: Ende der Präsidentschaft Sersch Sargsjans. Diese ist in Armenien auf zwei Amtszeiten beschränkt.
Die Menschen gehen auf die Strasse, um zu verhindern, dass Sargsjan die Macht behält und ins Amt des Ministerpräsidenten wechselt.
17. April: Entgegen aller bisherigen Beteuerungen übernimmt Sargsjan das Amt des Ministerpräsidenten.
Dieser Schritt ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt: Die Demonstrationen in der Hauptstadt Erewan werden zu Massenprotesten mit bis 700’000 Menschen.
22. April 2018: In einer Fernsehdebatte mit Oppositionsführer Nikol Pashinjan läuft Ministerpräsident Sargsjans nach zwei Minuten davon, weil ihm Pashinjan sagte, seine Zeit sei abgelaufen.
Kurz danach verhaftet die Polizei Oppositionsführer Pashinjan. Insgesamt nimmt sie unter teils brutaler Vorgehensweise an die 1000 Demonstranten fest. Alle werden nach kurzer Zeit wieder freigelassen.
23. April 2018: Nach nur fünf Tagen im Amt verkündet Sargsjan seinen Rücktritt. Interimistisch übernimmt Karen Karapetjan die Regierungsgeschäfte. Überraschend kündet er eine sofortige Neuwahl an.
24. April 2018: armenischer Gedenktag an den Völkermord 1915 bis 1923 durch die Osmanen. Ihm fielen bis zu 1,5 Millionen christliche Armenier zum Opfer. Das Zusammentreffen mit dem bedeutenden Tag brachte ein zusätzliches emotionales Momentum in die Proteste.
1. Mai 2018: Wahl des neuen Ministerpräsidenten im armenischen Parlament. Die Republikanische Partei Sargsjans, welche die Mehrheit hat, will mit einem Kandidaten ihre Macht absichern. Oppositionsführer Nikol Pashinjan will ebenfalls Ministerpräsident werden.
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