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Schweizer Demokratie auf der Rückseite des Globus

Tim Wilson macht im australischen Parlament seinem Lebenspartner einen Heiratsantrag.
Historische Szene: Der Abgeordnete Tim Wilson macht im australischen Parlament seinem Lebenspartner einen Heiratsantrag. Der sass auf der Tribüne und sagte Ja. Getty Images

Nach jahrelangem Streit hat das australische Parlament soeben die gleichgeschlechtliche Ehe beschlossen. Vorgespurt hatten die australischen Stimmbürger, mit dem ersten Ja in einer Volksabstimmung seit 40 Jahren. Australiens Verfassung ist stark von der Schweiz geprägt. Verantwortlich dafür waren zwei Auswanderer.

Dieser Beitrag ist Teil von #DearDemocracy, der Plattform für direkte Demokratie von swissinfo.ch. Hier äussern nebst internen auch aussenstehende Autoren ihre Ansichten. Ihre Positionen müssen sich nicht mit jener von swissinfo.ch decken.

Die Stimmung ist so gut wie schon lange nicht mehr im Australia Capital Territory, kurz ACT genannt. Hier im kargen australischen Hinterland wurde 1911 nach amerikanischem Vorbild eine föderale Exklave des Bundesstaates Neusüdwales (NSW) gebildet.

1913 wurde im 2300 Quadratkilometer grossen Gebiet die Hauptstadt Canberra gegründet. Hier hat die Regierung des föderalen Staates mit seinen knapp 25 Millionen Einwohnern ihren Sitz. Hier tagen auch die beiden Kammern des nationalen Parlamentes.

Und hier, in der Grossen Kammer, dem Repräsentantenhaus, spielten sich jüngst historische Szenen ab. In deren Mittelpunkt resp. am Rednerpult stand Tim Wilson. Doch der Abgeordnete von der liberalen Regierungspartei sprach nicht zum traktandierten Thema, der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare.

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Der politischste Heiratsantrag

Stattdessen schlug Wilson Nägel mit Köpfen ein: «Ryan Patrick Bolger, willst Du mich heiraten?», fragte Wilson, an die Zuschauerränge gewandt. Dort sass Wilsons Lebenspartner. Dieser sagte sofort Ja und nahm den wohl «politischsten» Heiratsantrag an, den es je gab.

Die Parlamentarier quittierten die überraschende Szene mit brandendem Applaus, viele von ihnen hatten vor Rührung Tränen in den Augen.

«Danke, liebe Bürgerinnen und Bürger, für dieses wunderschöne Weihnachtsgeschenk», kommentierte eine Abgeordnete der oppositionellen Arbeiterpartei. Was sie damit meinte: Das kürzliche Ja der australischen Stimmbürgerinnen und -bürger in einer Volksabstimmung zur Homo-EheExterner Link.

Am konsultativen Urnengang, der auf brieflichem Weg stattfand, beteiligten sich 80% der Stimmbürger. Sie votierten mit 61,6% Ja klar für die Modernisierung.

Immer wieder hatten Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Parteien in den vergangenen Jahren versucht, das australische Ehegesetz zu modernisieren. Immer wieder scheiterten diese Versuche an den Hürden der australischen Demokratie. Denn das Regierungssystem ist ein interessantes, aber auch komplexes Gebilde.

Demokratie-Konglomerat

«Ganz wichtig waren die Impulse aus den USA, Grossbritannien und der Schweiz «, sagt der Politikwissenschaftler Ron Levy, der an der angesehenen Australian National University in Canberra lehrt. Levy nahm Anfang Dezember auch an der Veranstaltung zum Thema «Direkte Demokratie in Australien und der SchweizExterner Link» teil, die von der Schweizer Botschaft in Canberra mitorganisiert worden war.

Von Amerika liessen sich Australiens Gründungsväter, die im Jahre 1891 zu einem Verfassungskonvent in Sydney zusammenkamen, für das Parlament mit zwei Kammern inspirieren. Hinzu kam das parlamentarische System des britischen Westminster-Modells. Darin thront die Königin von Grossbritannien als Souverän über dem Volk.

Der dritte wichtige Impuls kam der Schweiz: Das obligatorische Referendum bei Verfassungsänderungen. Dieses wurde gar 1:1 übernommen. Denn eine Verfassungsänderung tritt nur in Kraft, wenn Volk und Teilstaaten gemeinsam Ja dazu sagen, die Mehrheit also eine doppelte ist.

Im Herzen mitgebracht

Aber wie kam das doppelte Mehr aus der Schweiz auf die andere Seite der Weltkugel? Verantwortlich dafür war ein gewisser Henry A. Tardent, der aus der Waadtländer Gemeinde Ormont-Dessous stammte.

Tardent war in den 1880er-Jahren nach Australien ausgewandert. Genauer: nach Queensland, einer damaligen britischen Kolonie. Sein Start in der neuen Welt verlief vorerst unspektakulär, war Tardent doch zunächst Bauer. Dann arbeitete er sich zum Sprachlehrer hoch, bevor er zum Sekretär der Arbeiterpartei von Queensland avancierte.

Nun folgte der entscheidende Schritt: Der Verfassungskonvent in Sydney bat ihn, die Bundesverfassung der Schweiz zu übersetzen und zu erläutern.

Tardent erfüllte diese Aufgaben offenbar mit Bravour, denn die australischen Verfassungsväter übernahmen das obligatorische Referendum bei Verfassungsänderungen.

Und nicht nur das: Sie übernahmen auch das Ständemehr, diesen Ausgleichsmechanismus unter den Teilstaaten.

Neben Tardent spielte ein zweiter Schweizer eine zentrale Rolle: Heinrich Spoendlin. Er und Tardent schwärmten derart für ihr Heimatland, dass die Australier gleich passagenweise Schweizer Normen abkupferten. Spoendlin war nicht irgendwer, sondern ein direkter Nachfahre des Schweizer Reformators Huldrych Zwingli.  

Bremsblock

Seit der Staatsgründung haben die Australierinnen und Australier 44 Mal in einer nationalen Volksabstimmung zu einer Änderung der Verfassung Stellung beziehen müssen. Sie lesen richtig: müssen, denn in Australien gilt die Stimmpflicht. Wer sich am Abstimmungstag ohne Grund nicht in einem Stimmlokal meldet, erhält eine Busse von derzeit rund 40 australischen Dollar aufgebrummt (gut 30 Franken).

Das sechstgrösste Land der Welt tut sich aber ausgesprochen schwer mit der Modernisierung seiner Verfassung: Nur gerade in acht der 44 Abstimmungen kam das erforderliche doppelte Mehr zustande (siehe Box).

Erfolgreiche Verfassungsrevisionen in Australien

Seit 1901 sagten die Australier nur achtmal Ja zu einer Verfassungsänderung:

1906: Reform des Wahlsystems
1910: Finanzausgleich zwischen den Bundesstaaten
1928: Schuldenbremse
1946: Föderale Kompetenz für Sozialversicherungen
1967: Abschaffung der Aboriginals-Diskriminierung
1977: Ersatzwahl des Senates
1977: Recht auf Teilnahme an Volksabstimmungen durch Bürger der «Territories» (ACT/Canberra, Nordterritorium)
1977: Abschaffung der Richter auf Lebenszeit

(Quelle: Australische WahlkommissionExterner Link

Plebiszit als Ausweg aus der Sackgasse

Bei der Vorlage über die Homo-Ehe handelte es sich aber nicht um eine Verfassungsänderung, sondern um eine Gesetzesreform. Politikwissenschaftler Ron Levy erklärt den Hintergrund: «Aufgrund des Scheiterns aller Vorlagen der letzten 40 Jahre hat sich Australiens Premier Malcolm Turnbull dazu entschlossen, ein Plebiszit über das neue Ehegesetz abzuhalten.»

Volksabstimmungen über Gesetze haben laut Levy aber nur konsultativen Charakter, sind also nicht bindend. «Plebiszite aber sind für die Regierung ein möglicher Ausweg aus einer politischen Sackgasse», so Levy. Im Fall der Homo-Ehe ist das politische Kalkül des Premiers voll aufgegangen.

Denn ironischerweise waren es gerade Kräfte innerhalb der regierenden bürgerlichen Koalition aus Liberalen und Konservativen gewesen, die in den letzten Jahren die Einführung der Homo-Ehe immer wieder blockiert hatten. «Die Volksabstimmung hat diesen Knoten nun gelöst», sagt Levy.

Hoffen auf Reform-Frühling

«Hoffentlich können wir diese Dynamik nun auch für weitere überfällige Reformen nutzen», sagt Sarah Heathcote, Vizedirektorin für Internationales und Öffentliches Recht an der Australian National University.

Heathcote, die ebenfalls an Veranstaltung in Canberra teilnahm, hofft insbesondere auf die verfassungsmässige Anerkennung der Aborigines, der australischen Urbevölkerung. Noch etwa eine halbe Million Einwohner zählen sich zur indigenen Bevölkerung, die lange vor Ankunft der ersten Europäer im Jahre 1770 den fünften Kontinent bevölkerte.

200 Jahre lang wurden die Aborigines von den weissen Einwanderern schonungslos verfolgt und ausgegrenzt. Erst im Jahre 2008 erfolgte dazu eine offizielle Entschuldigung einer australischen Regierung.

Doch angesichts des erforderlichen doppelten Mehrs für eine Verfassungsänderung ist es den politischen Parteien bislang nicht gelungen, einen für beide Seiten tragfähigen Konsens für eine längst fällige verfassungsmässige Anerkennung zu finden.

Queen Elizabeth II bleibt Monarchin

Tief sitzt zudem immer noch der Frust über die gescheiterte Ablösung der Monarchie durch eine Republik im Jahre 1999. Nicht nur eine Mehrheit von knapp 55% der Stimmenden lehnte die Auftrennung ab, sondern auch sämtliche acht Teilstaaten des «Fünften Kontinents».

Zuvor hatte sich in Umfragen eine breite Mehrheit der Stimmbürger – und der Parlamentarier – für das Ende der Monarchie ausgesprochen.

«Nun ist die Reform für Generationen vom Tisch», hält Ron Levy fest. Der Souverän in Australien ist also nicht – wie in der Schweiz – das Volk. Sondern nach wie vor die britische Königin, die im Buckingham-Palast im fernen London residiert.

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