Die Volksinitiative hat an Polit-Appeal eingebüsst
Die an sich schon lange Liste von Volksinitiativen und Referenden – den beiden Hauptinstrumenten der direkten Demokratie schweizerischer Prägung – ist 2015 noch länger geworden. Aber der Zenit scheint überschritten, was den Einsatz der Volksrechte als Wahlkampfmaschinen und Stimmenbeschaffer betrifft.
Der Blick zurück in die Geschichtsbücher zeigt, dass die Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger seit Einführung der Volksinitiative 1874 insgesamt 198 Mal an der Urne über ein Volksbegehren befinden konnten. Nur 22 davon, also knapp 10%, fanden die Zustimmung des Souveräns und führten zu einer Änderung der Verfassung.
Bis heute wurden insgesamt 440 Volksinitiativen lanciert. Im ablaufenden Jahr waren es laut Bundeskanzlei deren fünf. Im Vergleich zu den Vorjahren ist der Neuzuwachs damit geringer ausgefallen.
«Es scheint, dass die weit verbreiteten Bedenken hinsichtlich einer unüberschaubaren ‹Flut von Initiativen› nicht gerechtfertigt sind», sagt Claude Longchamp, Leiter des Forschungsinstitutes gfs Bern gegenüber swissinfo.ch.
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Die direkte Demokratie Schweiz auf Rekordhoch
Noch bis vor kurzer Zeit deutete vieles darauf hin, dass die Parteien die Volksinitiative gezielt als politisches Instrument einsetzen, insbesondere als Wahlkampfmaschinen zur Stimmenbeschaffung vor Parlamentswahlen.
«Doch mit Ausnahme der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP) haben alle anderen wichtigen Parteien lernen müssen, dass sich dies kaum auszahlt. Die Abstimmungskampagnen kosten sehr viel Geld und binden grosse personelle Ressourcen. Der Erfolg an der Urne dagegen ist höchst ungewiss», sagt der Politikexperte.
Ihm fällt auf, dass zwei der fünf neu lancierten Initiativen thematisch vor allem auf Bürger in städtischen Räumen abzielten. Bürger in ländlichen Gebieten würden aber für die Initiative für bezahlbare Wohnungen und für die Velo-Initiative höchstwahrscheinlich nur sehr begrenzt Verständnis aufbringen, vermutet Longchamp.
Heisses Eisen
Eines der neu lancierten Volksbegehren ragt mit seinem grossen Potenzial heraus, mit dem die SVP als Urheberin einmal mehr eine heftige innenpolitische Kontroverse auslösen könnte. «Die Initiative mit dem Ziel, die Schweizer Verfassung über internationales Recht zu stellen (Fremde Richter-Initiative), könnte für die Stimmenden hoch attraktiv sein. Sie betrifft die Souveränität und Neutralität, also Themen, die tief in der Mentalität der Schweizer verwurzelt sind.»
Nummer vier am Start ist die Zersiedlungsinitiative. Sie stammt aus der Ecke der Grünen Partei und will im kleinräumigen Land die Ausbreitung von Siedlungsräumen eindämmen.
Die letzte frische Initiative schliesslich wurde von Organisationen aus dem Bereich der Entwicklungshilfe lanciert. Mit an Bord sind bei der Initiative für verantwortungsvolle Unternehmen – zum Schutz von Mensch und Umwelt Parteien aus dem linken Spektrum, Gewerkschaften und die Kirchen. Sie wollen Unternehmen dazu verpflichten, in ihrer Wertschöpfungskette die Menschenrechte und ökologische Grundsätze zu respektieren.
Initiative und Referendum
Damit eine Volksinitiative auf nationaler Ebene zur Abstimmung kommt, bedarf es 100’000 Unterschriften, die innerhalb von 18 Monaten gesammelt werden müssen.
Ändert das Parlament die Verfassung, muss ebenfalls zwingend das Volk darüber befinden.
Das Referendum ist das Vetorecht des Volkes gegen Gesetze, die das Parlament beschlossen hat. Anforderungen: 50’000 Unterschriften innert 100 Tagen seit Erlass.
In der Regel wird der Schweizer Souverän im Jahr viermal zur Urne gerufen. Dabei stimmen die Bürger über nationale, kantonale und kommunale Vorlagen ab.
Parlamentswahlen finden alle vier Jahre statt.
Was auffällt: Zwei Themen, die zuletzt regelmässig aufgetaucht sind, fehlen. «Auf der Liste der Initiativen fehlen Umweltfragen und die Einwanderung, zwei klassische Themen seit den 1990er-Jahren», so Longchamp.
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Vetorecht zum Ausbremsen des Parlaments
2015 wurden sechs Referenden ergriffen. Die Zahl liegt leicht über dem jährlichen Schnitt. Mit einem Referendum kann das Volk Entscheide des Parlaments korrigieren. Und solche Referenden könnten die Schweizer Politik 2016 tatsächlich markant prägen.
«Namentlich die Abstimmung über ein Gesetz zur Reform des Asylrechts wird die öffentliche Debatte fortführen, welche die politische Agenda der letzten Jahre dominierte. Das Referendum wird es der SVP erlauben, weiter den politischen Takt vorzugeben und im Rampenlicht zu stehen», sagt der Berner Politikwissenschaftler.
Hinter der leicht erhöhten Zahl steht nicht eine wachsende Opposition der Zivilgesellschaft oder von Minderheiten, die dem Parlament den Wind aus den Segeln nehmen wollen. Sie zeigt indes an, dass es immer mehr Gruppen gibt, die eine Abstimmung auf Landesebene verlangen und die dazu nötigen 50’000 Unterschriften binnen 100 Tagen sammeln können. Mit anderen Worten: Gruppen, die referendumsfähig sind.
«Dies geht einher mit dem langfristigen Trend, dass das Parlament eher bereit ist, umstrittene Entscheide zu fällen, ohne zwingenderweise einen breiteren Konsens anzustreben. Als Konsequenz könnten sich Minderheiten ausgeschlossen fühlen und darum öffentliche Abstimmungen verlangen.»
Die Referenden betrafen folgende Themenbereiche: Gesetz über die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Radio- und Fernsehanbieters SRG/SSR (Abstimmung vom Juni 2015), Erneuerung des Gotthard-Strassentunnels (Abstimmung Februar 2016), die erwähnte Revision des Asylgesetzes sowie die genetischen Untersuchungen von menschlichen Embryonen. Schliesslich wollen Leute aus dem linken Lager mit einer Volksabstimmung ein neues Gesetz abwenden, das den Ausbau des Geheimdienstes und dessen Ermittlungsmethoden absichert.
Nicht geschafft haben es 2015 ein Referendum sowie vier Initiativen. Innert eines halben Jahres kamen nicht genügend Unterschriften von Stimmberechtigten zustande, um ein neues System des Finanzausgleichs zwischen reichen und armen Kantonen zu verhindern, den so genannten Ressourcenausgleich.
Abstimmungen und Wahlen
2015 gab es nur zwei statt der sonst üblichen vier Volksabstimmungs-Wochenenden auf nationaler Ebene. Sie betrafen insgesamt sechs Vorlagen. Zur Debatte standen etwa die Einführung einer Erbschaftssteuer für Nachfahren vermögender Verstorbener oder der Ersatz der Mehrwertsteuer durch eine Energiesteuer.
Initiativen und das Referendum wurden allesamt bachab geschickt. Ausnahme war die Verfassungsänderung über die Lockerung der Beschränkung, menschliche Embryonen genetisch auf Erbkrankheiten zu untersuchen – die Mehrheit votierte dafür.
Höhepunkte des Schweizer Politjahres waren aber zweifellos die Parlamentswahlen und die Bundesratswahlen von Oktober resp. Dezember. Erstere brachten insofern einen markanten Wechsel, als dass die Rechtsbürgerlichen, bestehend aus SVP und dem Freisinn, im neuen Schweizer Parlament eine – wenn auch nur knappe – Mehrheit besitzen.
(Übertragung aus dem Englischen: Renat Kuenzi)
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