Die Landsgemeinde – Politik-Pomp oder Ur-Demokratie?
In Appenzell-Innerrhoden wird die älteste Form der direkten Demokratie zelebriert. Davon lassen sich die zähen Bürgerinnen und Bürger auch von Schnee und Kälte nicht abhalten. Aber wie demokratisch ist dieses System, das auf das späte 14. Jahrhundert zurückgehen soll?
Einmal im Jahr werden in Appenzell-Innerhoden die goldenen Helme poliert, die grossen Fahnen mit den Familienwappen und die langen schwarzen Roben aus dem Schrank hervorgeholt – alles für den «wichtigsten Tag im Jahr»: die LandsgemeindeExterner Link.
Die Feststimmung kann nicht mal der Schnee trüben, der ungewöhnlich spät kommt und sich an diesem letzten Sonntag im April weiss auf die blühenden Apfelbäume und Giebeldächer legt.
Neben Schneeflocken hängt der Geruch nach grillierten Würsten in der Luft, und nach den «Landsgmendchrempfli» (Landsgemeinde-Kräpflein), dem traditionellen Gebäck mit Haselnussfüllung, das zur Feier des Tages gebacken wird. Die Menschen drängen sich auf den Strassen, die eher Gassen sind, im knapp 6000 Einwohner zählenden Kantonshauptort Appenzell.
Ausgerichtet sind alle Wege auf den Landsgemeindeplatz in der Ortsmitte. Hier entscheiden die Appenzeller seit Jahrhunderten per Handaufhalten über kantonale Sachfragen, wählen die Regierungsmitglieder und die Kantonsrichter. Blüht in Appenzell die Demokratie in ihrer direktesten Form? Oder wird hier lediglich mit viel Folklore ein politisches Fossil am Leben gehalten?
Im Mittelalter entstanden
Wie die Landsgemeinden entstanden sind, dazu gibt es mehrere TheorienExterner Link. Hans-Peter SchaubExterner Link vom Berner Institut für Politikwissenschaft, der in seiner jüngst veröffentlichten DissertationExterner Link das landsgemeindliche System mit dem Urnensystem verglichen hat, sagt: «Lange dachte man, dass sie von germanischen Volksversammlungen abstammen. Heute wird allerdings überwiegend die These vertreten, dass sich die Landsgemeinden im Mittelalter aus Korporations- oder Gerichtsversammlungen heraus entwickelt haben.» Also aus Gruppen, die gemeinsam Boden oder eine Alp bewirtschafteten.
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«Der Höhepunkt im
weltlichen Jahreslauf»
Heute existiert in der Schweiz neben Appenzell-Innerrhoden nur noch in Glarus eine Landsgemeinde. Einst wurde dieses politische System in acht Schweizer Kantonen angewendet. Ein Kanton nach dem anderen ging aber schliesslich zum Urnensystem über: Schwyz und Zug bereits vor der Gründung des Bundesstaats 1847, Uri folgte 1928. Zuletzt verabschiedeten sich in den 1990er-Jahren mit Nidwalden, Appenzell-Ausserrhoden und Obwalden gleich drei Kantone von der Versammlungsdemokratie.
Die Harmoniemusik beginnt zu spielen. Der Einmarsch der Regierung beginnt. Die sechs Regierungsräte und die eine Regierungsrätin schaukeln auf den Landsgemeineplatz, langsam, im wiegenden Trauerschritt. Es hat zu schneien begonnen, Schneeflocken legen sich auf ihre schwarzen Roben. Sie steigen auf den «Stuhl», wie die Tribüne auf dem Platz genannt wird. Dieser steht aber nicht nur ihnen zu, sondern bei jedem Traktandum allen stimmberechtigten Bürgern offen.
Gleiche Informationen für alle
«Das Rederecht für alle ist die grösste demokratische Stärke der Landsgemeinde», sagt Hans-Peter Schaub. Dadurch können Beratungen zu Sachfragen durchgeführt und alle anwesenden Stimmbürger bekommen die Argumente beider Seiten zu hören. «Beim Urnensystem hingegen findet die Diskussion vor allem über die Medien statt.» Wer aber nicht finanzstark oder sehr gut organisiert ist, habe es viel schwerer, sich in den Medien Gehör zu verschaffen als an der Landsgemeinde. Eine weitere Stärke der Landsgemeinde besteht darin, dass die Entscheidungsmöglichkeiten im Vergleich zur Urne mehrdimensional sind. Die Stimmbürger können nicht nur Ja oder Nein entscheiden. Sondern auch Vorlagen zurückweisen.
Dazu kommt es an der diesjährigen Landsgemeinde aber nicht. Sowieso nimmt sich die Versammlung heuer kurz aus – vielleicht wegen der Schneeschicht, die auf den Hausdächern immer dicker wird.
Zügig werden die Wiederwahlen der Regierungsräte und des Kantonsgerichts durchgeführt, vier Gesetzesrevisionen angenommen und eine Initiative eines einzelnen Bürgers über das Schulsystem verworfen.
Zum Abstimmen müssen die Stimmbürger ihre schneeschweren Schirme jeweils kurz schliessen, damit man die in die Höhe gereckten Hände sieht. Die Mehrheit wird von Auge bemessen, nur im grossen Zweifelsfall wird ausgezählt.
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Fehlendes Stimmgeheimnis
Anders als beim Urnensystem sieht hier jeder, wie die Menschen um ihn herum abstimmen. Und darin wird laut Hans-Peter Schaub auch die grosse Schwäche der Landsgemeinde gesehen: «Das Stimmgeheimnis, welches heute gemeinhin als einer der wichtigsten Grundsätze der Demokratie gilt, ist nicht gewahrt.»
Weil dies auch der Europäischen Menschenrechtskonvention widerspricht, musste die Schweiz bei deren Ratifizierung eine Ausnahmeklausel für die Landsgemeinden einfügen.
Kann die öffentliche Stimmabgabe auch Einfluss auf die politische Ausrichtung der Entscheide haben? Hans-Peter Schaub sagt: «Landsgemeinden hatten lange das Image, dass sie eher politisch rechte Entscheide generieren.»
Geprägt ist dieses Bild von Vorkommnissen wie 1990, als Appenzell-Innerrhoden den Frauen das kantonale Stimmrecht ein weiteres Mal nicht geben wollte.
Doch gemäss Schaub hätten Volksversammlungen immer wieder, und gerade auch in jüngster Zeit, auch progressive Entscheide gefällt. «Insgesamt ist davon auszugehen, dass das System Landsgemeinde keine politische Seite bevorteilt.»
Neben dem fehlenden Stimmgeheimnis kämpfen Landsgemeinden im Weiteren mit der geringen Teilnahme. «Durchschnittlich nehmen 10 bis 15 Prozent weniger Leute an der Landsgemeinde teil als an einer Urnenabstimmung,» sagt Hans-Peter Schaub.
Schwächen angehen
Dennoch ist die Schar der Leute riesig, die nach der Versammlung durchfroren in die vielen Restaurants strömt. Vielleicht wirkt das auch deshalb so, weil neben den Appenzellern auch zahlreiche aus der ganzen Schweiz angereiste Besucherinnen und Besucher in den Beizen sitzen.
Aber die Landsgemeinde sei durchaus zeitgemäss und bei vielen beliebt , sagt Schaub. «Historisch ist die Versammlungsdemokratie zwar auf dem Rückzug. Doch in Glarus und Appenzell geniessen die Landsgemeinden einen grossen Rückhalt in der Bevölkerung.»
Das ist nicht etwa nur folkloristische Nostalgie, sondern hat gemäss Schaub durchaus seine Berechtigung. Die wissenschaftlichen Untersuchungen von ihm und anderen Forschern zeigten, dass diese alte Form nicht weniger demokratisch sei als das Urnensystem.
Doch wenn die Landsgemeinden überleben wollten, muss man laut dem Forscher deren Schwächen angehen. Beispielsweise, indem man sich technische Lösungen überlegt, um eine geheime Wahl durchzuführen oder Ideen sammelt, wie man mehr Leute an den jährlichen Anlass bringen kann.
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