Ein Jahrzehnt Schweizer Demokratie-Forschung in der Blumenhalde
"Demokratie ist kein einmal erreichter Zustand, dessen man sich für alle Zeiten sicher kann." Wie wahr! Der Satz steht in der Einleitung des neuen Buches "Brennpunkt Demokratie". Es ist dies das Geschenk, welches das Zentrum für Demokratie Aarau sich selbst und der politischen Öffentlichkeit der Schweiz macht – aus Anlass seines zehnten Geburtstags.
Nicht mehr der Putsch von aussen bedroht die erfolgreichste Regierungsform der Gegenwart. Vielmehr ist es der schleichende Kampf von Regierungen gegen Kontrollen ihrer Macht, die an den heutigen Demokratien nagen. Griechenland, die Türkei, aber auch Frankreich und Grossbritannien liefern uns das aktuelle Anschauungsmaterial dazu.
Das Buch
Brennpunkt DemokratieExterner Link. Verlag Hier&Jetzt, Baden 2019.
Herausgegeben hat das Demokratiebuch das Zentrum für Demokratie in AarauExterner Link. Der Anlass ist das zehnjährige Jubiläum des ZDA. Dieses hat sich im Inland als behördennahe Forschungsstelle etabliert.
Drei Kompetenzen bilden seit der Gründung den Kern der Institution: Demokratie aus Sicht des Staatsrechts, der Politikwissenschaft sowie der politischen Bildung machen die Besonderheit des ZDA aus.
Das spiegelt sich auch im vielfältigen Sammelband mit zehn Aufsätzen und einer Reihe leichter Geschichten rund um die Forschung und die Institution.
Digitale Ernüchterung
Nadja Braun Binder Externer Linknimmt sich der direkten Demokratie im Zeitalter der Digitalisierung an. Herausforderungen der Volksrechte sieht sie bei der elektronischen Stimmabgabe, bei der Entmaterialisierung der Unterlagen und bei der elektronischen Unterschrift.
Die Euphorie der frühen Jahre zur digitalen Demokratie sei hierzulande vorbei. So endet Brauns Aufsatz mit einer ernüchternden Zwischenbilanz: «Die Digitalisierung der direktdemokratischen Instrumente schreitet viel langsamer voran, als es gemeinhin erwartet wurde.»
Mehr als theoretische Erörterungen gebe es in der Schweiz nur beim E-Voting. Ob es aber für einen baldigen Übergang von der Probephase zum ordentlichen Betrieb reiche, sei angesichts der vielfältigen Widerstände zu bezweifeln.
Politischer Konsum und politische Partizipation
Birte GundelachExterner Link und Deborah KalteExterner Link schreiben über politische Partizipation. Doch interessieren sie sich nicht viel viele andere Forschende für das Schwanken der Stimm- und Wahlbeteiligung. In ihrem originellen Aufsatz geht es vielmehr um Konsum und Politik.
Eine eigens hierzu durchgeführte Bevölkerungsbefragung zeigt, dass in der Schweiz fast die Hälfte der Konsumentinnen und Konsumenten aus politischen Gründen bestimmte Konsumgüter bewusst kauft oder boykottiert. Umwelt- und Tierschutz, aber auch bedrohte Menschen- und Arbeitsrechte sind beim Konsumverhalten meist ausschlaggebend.
Wichtig ist die Schlussfolgerung der beiden Autorinnen: Politisch bewusster Konsum führt nicht zu höherer politischer Beteiligung. Mit anderen Worten: Wer menschen-, tier- und umweltgerecht einkauft, ist oft bereits schon politisch aktiv.
ZDA in Zahlen
Am ZDA forschen rund 45 Mitarbeitende. Sie teilen sich 25 Vollzeitstellen.
Die Grundfinanzierung beträgt ca. 2,3 Mio. Franken pro Jahr. Träger sind der Kanton Aargau, die Stadt Aarau, die Universität Zürich und die Fachhochschule Nordwestschweiz.
Mit den Drittmitteln beträgt der Jahresetat des ZDA rund vier Millionen Franken.
Zu den wichtigsten ZDA-Forschungsprojekten 2018-2021 geht es hierExterner Link.
Flagschiff-Anlass des ZDA sind die Aarauer DemokratietageExterner Link, die jedes Jahr Mitte Februar stattfinden. Sie bestehen aus einem prominent besetzten Publikumsanlass sowie einer Forschungstagung.
Game für den Demokratie-Nachwuchs
Schliesslich die politische Bildung! In diesem Bereich hat sich das ZDA mit der Entwicklung von Politiksimulationen hervorgetan. So ist das Computerspiel «Politik.Macht.Gesetz»Externer Link entstanden. Darin lernen Schülerinnen und Schüler – der Nachwuchs der Demokratie Schweiz – den Weg eines Gesetzes in der Schweiz kennen, und zwar von der Wiege an.
Das alternative Vorgehen in der Lehre zeige positive Effekte, schreiben Patrik ZamoraExterner Link und Stefan Walter, die beiden Entwickler der ComputersimulationExterner Link. Das Wissen der Teilnehmenden werde gesteigert und, fast noch wichtiger, die Jungen fänden das spielerische Lernen interessant und bereichernd.
Zu theoretisch – zu wenig praxisbezogen?
Mit dem Buch stellt sich das ZDA selber in ein gutes Licht. Man sei einzigartig in der Welt, schreiben die Herausgeber. Denn das ZDA sei das einzige Demokratieinstitut, das durch einen Volksentscheid legitimiert sei. 2007 hatten die Einwohner der Stadt Aarau der Gründung klar zugestimmt.
Trotzdem vermisst man im Sammelband die Aussensicht. Alle Autorinnen und Autoren sind oder waren am ZDA angestellt. Eine Evaluation von aussen, ja aus dem Ausland, sucht man vergebens.
Möglicherweise hat das mit der Ausrichtung zu tun: Das ZDA steht zwischen Theorie und Praxis. Im Ausland hat sich die Demokratie-Forschung insbesondere seit 2016, seit der Trump-Wahl und der Brexit-Entscheidung, rasant entwickelt. Sie nimmt aber nur sehr bedingt Bezug auf die Erfahrungen in der Schweiz. Da bleibt noch viel zu tun.
Aber auch im Inland ist an verschiedenen Orten eine neue Demokratiebewegung am Entstehen. Was sie kennzeichnet: Sie ist handlungsorientiert, zielt auf Veränderung und Entwicklung der Politik und der Demokratie ab.
Da passt das Selbstverständnis des ZDA nur bedingt dazu. Im Buch beschreibt die Direktion dieses vornehm zurückhaltend so: «Wir massen uns nicht an, die Demokratie zu verbessern, sie zu verbreiten oder sie zu verändern.»
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch