Sag mir, wer du bist, und ich sag dir, wie du wählst
Wählen und Abstimmen ist auch eine Charaktersache: Offene Personen neigen eher dem linken Lager zu, während Gewissenhafte Positionen des Law & Order bevorzugen. Diesen Schluss zieht der Schweizer Politikwissenschaftler Markus Freitag in einem neuen Buch, das auf fast 15'000 Interviews mit Bürgerinnen und Bürgern beruht.
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War die Rentenreform, über welche die Schweiz am 24. September abgestimmt hat, ein ausgewogener Kompromiss? Oder ein verantwortungsloser Ausbau der AHV zulasten der Jungen? Welche Antwort wir auf diese wie auch andere politische Fragen geben: sie hängt auch mit unserer Persönlichkeit zusammen.
Wer Wert legt auf Ausgleich und soziale Gerechtigkeit, kommt zu einem anderen Schluss als jemand, dem die Einhaltung von Regeln und eine nachhaltige Finanzierung wichtig sind.
Für Markus Freitag steht fest: Der Charakter spielt eine wichtige Rolle bei politischen Entscheiden. Der Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bern hat soeben das Buch «Die Psyche des Politischen» veröffentlicht*Externer Link. Darin untersucht er die Auswirkungen verschiedener Persönlichkeitseigenschaften auf politische Einstellungen und Entscheidungen.
Seine Forschung reiht sich ein in die internationalen Untersuchungen, die vom sogenannten Fünf-Faktoren-Modell ausgehen (siehe Box).
Freitag stützt sich für seine Studie auf vier grosse Befragungen, die in den letzten Jahren in der Schweiz durchgeführt wurden. Gemäss diesen schätzen sich rund die Hälfte der Schweizerinnen und Schweizer als gewissenhaft ein. Die am zweitstärksten verbreitete Eigenschaft ist die Verträglichkeit, gefolgt von der Offenheit und der Extrovertiertheit, während sich nur wenige Befragte als besonders neurotisch sehen.
Offene und Extrovertierte offener für Politik
Allerdings gibt es regionale Unterschiede: Leute, die auf dem Land wohnen, sind tendenziell gewissenhafter, während Stadtbewohner offener sind. Auch zeigt sich, dass Westschweizer und Tessiner im Schnitt höhere Werte für Offenheit aufweisen als Deutschschweizer, die ihrerseits gewissenhafter und kompromissbereiter als ihre französisch- und italienischsprachigen Mitbürger sind.
Bestätigt sich damit das Klischee der zurückhaltenden und verschlossenen Deutschschweizer? Nicht ganz: Entgegen der verbreiteten Vorstellung sind Westschweizer und vor allem Tessiner laut den Befragungen nämlich weniger extrovertiert.
Fünf-Faktoren-Modell
Vereinfacht gesagt, unterscheidet dieser in der Psychologie anerkannte Ansatz zwischen folgenden Typen:
Offener Typ: Aufgeschlossen gegenüber neuen und unbekannten Erfahrungen. Sehr kreativ und stellt gerne verbreitete Vorstellungen und Gewohnheiten in Frage.
Gewissenhafter Typ: sorgfältig und genau. Haben gerne Ordnung in ihrem Alltag und bevorzugen ein stabiles Familienleben.
Extrovertierter Typ: fühlt sich wohl unter anderen Leuten und teilt sich gerne mit.
Verträglicher Typ: bevorzugt Harmonie und scheut Konflikte.
Neurotischer Typ: ängstlich, unsicher und leicht reizbar. Emotional belastbare Menschen hingegen verhalten sich in der Regel ruhig und besonnen.
Die fünf Eigenschaften sind bei jeder Person jeweils unterschiedlich stark ausgeprägt und es gibt alle möglichen Kombinationen. Ein Mensch kann also gleichzeitig offen und gewissenhaft oder extrovertiert und neurotisch sein.
In seiner Analyse stellt Freitag zudem fest, dass das politische Interesse mit der Persönlichkeit zusammenhängt. Offene und extrovertierte Personen interessieren sich am stärksten für politische Fragen.
Verträgliche Menschen hingegen sind an politischen Fragen verhältnismässig wenig interessiert. Das erklärt Freitag damit, dass Politik von Konflikten und Auseinandersetzungen geprägt ist, was diesen Charaktertyp eher abschreckt.
Interessant ist, wie politische Einstellungen mit der Persönlichkeit zusammenhängen. Tendenziell lässt sich sagen, dass offene und verträgliche Personen eher dem linken Lager zuneigen, während Gewissenhafte konservative Positionen bevorzugen. Für gewissenhafte Menschen sind die Einhaltung von Recht und Ordnung sowie stabile Preise wichtig, während offene Personen zentralen Wert auf die Garantie der Meinungsfreiheit legen.
Persönlichkeit nur einer von mehreren Faktoren
Auch befürworten Letztere die Zuwanderung am stärksten. Für Verträgliche ist vor allem ein starker Sozialstaat wichtig. Gewissenhafte befürworten in beiden Bereichen eher eine Begrenzung.
Diese Effekte sind unabhängig von anderen (möglichen) Einflussfaktoren wie Alter, Geschlecht, Bildung oder Wohnort. Freitag betont, dass der Stimmbürger nicht Spielball seiner Persönlichkeit sei. Die Ansage «Sag mir, wer du bist, und ich sag dir wie du wählst» ist in dieser Absolutheit also überspitzt. Es gehe auch nicht darum, andere Einflüsse auf das Stimmverhalten auszublenden. «Ich versuche vielmehr aufzuzeigen, dass wir den Charakter bei der Erklärung des politischen Denkens und Handelns nicht aussen vor lassen sollten.»
In den meisten Analysen erwies sich die Persönlichkeit laut dem Wissenschaftler als ebenso wichtig wie die Bildung, das Geschlecht oder andere soziodemografische Einflussgrössen.
Einfallschneise für Micro Targeting?
Wie gehen politische Akteure mit diesem aufgezeigten Einfluss der Persönlichkeit um? Im Dezember vergangenen Jahres sorgte ein Artikel im Magazin der Schweizer Zeitung Tages-Anzeiger für Aufsehen. Darin behaupteten die Autoren, Donald Trump habe seinen Sieg bei den US-Präsidentschaftswahlen massgeblich einer neuartigen Methode personalisierter und digitalisierter Werbung zu verdanken, dem so genannten Micro Targeting.
Dies aufgrund gezielter Werbebotschaften, welche die Firma Cambridge Analytica vor dem November 2016 auf Facebook schaltete. Der angebliche Clou: Die Digital-Kampagne soll direkt auf die Persönlichkeiten der Nutzer zugeschnitten gewesen sein.
Der tatsächliche Nutzen dieser Botschaften ist aber höchst umstritten. Klar ist: Nicht erst seit dem letzten US-Präsidentschafts-Wahlkampf zielen Kandidaten und Parteien mit ihren Botschaften möglichst genau auf die Empfänger. Die digitalen Medien eröffnen ihnen dazu aber ganz neue Möglichkeiten, dies noch präziser zu tun.
Wie andere Experten zweifelt auch Markus Freitag daran, dass die Methoden von Cambridge Analytica tatsächlich entscheidenden Einfluss auf die Wahl Trumps hatten. «Die Kenntnis der Persönlichkeit erlaubt zwar eine passgenauere Ausrichtung politischer Botschaften. Ob diese allerdings auch zur Mobilisierung der Zielgruppe beiträgt, steht auf einem anderen Blatt.» Zudem sei der Charakter äusserst vielschichtig und Wahlausgänge seien auch von äusseren Ereignissen abhängig, sagt Freitag.
Dennoch sieht er in der Analyse und Nutzung von Persönlichkeitsprofilen durch politische Akteure Gefahren. «Was in uns ein gewisses Unbehagen auslöst, ist die Verbindung des eigentlich Privaten – nämlich der Persönlichkeit – mit etwas Öffentlichem, nämlich dem politischen Prozess. Die Frage, wie wir mit dieser Verbindung umgehen und auf welche Weise wir sie regulieren, wird uns in naher Zukunft sicher beschäftigen.»
*Markus Freitag: «Die Psyche des Politischen. Was der Charakter über unser politisches Denken und Handeln verrät.» NZZ Libro, Zürich 2017.
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