Ein Drittel der Weltbevölkerung büsst demokratische Rechte ein
Die Autokratisierung schreitet weiter voran: Gab es 2008 noch 44 vollwertige Demokratien, waren es 2018 noch deren 39. Dies zeigt der neue V-Dem-Jahresbericht, der umfassendste internationale Demokratievergleich. Die Demokratie sei aber nicht im freien Fall, betonen die Autoren.
#DearDemocracy, die Plattform für direkte Demokratie von swissinfo.ch, publiziert Ergebnisse des V-Dem-Jahresberichts 2019 exklusiv vorab.
Für 2018 registrierten die Forschenden 24 Demokratien, die ernsthaft von Autokratisierung erfasst sind. Darunter sind mit Indien, Brasilien und den USA gleich drei grosse Brocken, die bevölkerungsmässig einschenken.
Deshalb auch die Zahl von 2,3 Milliarden Menschen – ein Drittel der Weltbevölkerung, die 2018 in Ländern mit Tendenz zur Autokratie lebten. 2016 waren es erst 415 Millionen Menschen gewesen.
Dort und in anderen Ländern sind starke Männer am Drücker, die wissen, was das Volk will, und die in dessen Namen liberale Freiheiten, Rechtsstaatlichkeit und Gewaltentrennung aushöhlen.
Im globalen Überblick standen 2018 den 99 Demokratien insgesamt 80 Autokratien gegenüber (mehr dazu in der Box «Politische Systeme»).
Diese Zahlen weist der Jahresbericht 2019 des V-DEM-Instituts der schwedischen Universität Göteborg aus. Er steht unter dem Titel «Demokratie vs. globale Herausforderungen»Externer Link.
Die politischen Systeme
Heute hat sich die Einteilung in vier Typen durchgesetzt:
● Liberale oder vollständige Demokratien: Grundrechte garantiert, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltentrennung
● Illiberale oder defekte Demokratie: freie und faire Wahlen. Grundrechte unter Beschuss, z.B. Pressefreiheit.
● Hybride Regimes: Wahlen, aber manipuliert. Grundrechte unter Beschuss, z.B. Pressefreiheit. Rechtsstaatlichkeit, Gewaltentrennung ausgehebelt. Verfolgung politischer Gegner
● Autokratie: absolute Monarchien oder Diktatur. Kaum echter Parteienpluralismus. Manipulierte Wahlen. Nur Staats- oder staatsnahe Medien. Zensur, Verfolgung von Kritikern.
V-Dem steht für Varieties of Democracy, das grösste internationale Programm mit über 3000 Forschenden rund um den Globus (Box unten). Sie erarbeiten alljährlich den am breitesten abgestützten internationalen Demokratievergleich.
Manipulation allenthalben als Gefahrenherd
Trotz der fortschreitenden Tendenz zur Autokratisierung lebten 2018 mehr Menschen in Demokratien als je im vorigen Jahrhundert, schreiben die Autorinnen und Autoren um Anna Lührmann, die stellvertretende Leiterin des V-Dem-InstitutsExterner Link.
Als grösste Herausforderungen für die Demokratien heute identifizierten sie und Kollegen die Manipulation von Wahlen, Medien sowie den Kampf gegen Rechtsstaatlichkeit und die Zivilgesellschaft. Herausforderung Nummer zwei ist der Vormarsch einer «toxischen Polarisierung» – die Spaltung der Gesellschaft mittels Hate Speech.
Weitere Gefahr seien Desinformations-Kampagnen mittels Falschinformationen auf digitalen Kanälen. 70% der autokratischen Regimes benützen laut V-Dem-Bericht das Internet zur Manipulation der öffentlichen Meinung.
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«Autokratisierung bringt die Demokratien in Gefahr»
«Keine Panik»
Angesichts dieser und weiterer Probleme wie etwas Defizite in den Staatskassen zeigten sich die Demokratien aber bemerkenswert robust, sagt Anna Lührmann gegenüber swissinfo.ch. «Wir sollten nicht in Panik verfallen.»
Auch sie ist über den anhaltenden Trend zu starken Führungspersönlichkeiten beunruhigt. «Aber wir haben noch keinen Krisenpunkt erreicht, an dem etablierte Demokratien wie Dominosteine fallen», sagt die deutsche Politikwissenschaftlerin.
Positives fernab der Weltöffentlichkeit
Sie hat im vergangenen Jahr auch viele positive Zeichen gesehen. Lührmann hebt die Wahl von Präsident Sooronbay Jeenbekov in Kirgisistan hervor. «Es war die erste friedliche Machtübergabe von einem demokratisch gewählten Führer zum anderen in Zentralasien.»
21 Länder wurden in den letzten zehn Jahren demokratischer. Dazu zählen auch Armenien, Tunesien, Georgien oder Burkina Faso.
Erfolgsgeschichten wie Tunesien, Bhutan, Fidschi und andere nicht-traditionelle Demokratien zeigten, dass die Demokratie immer noch neue Anhänger gewinnen kann.
Das internationale Forschungsprogramm V-Dem
Varieties of Democracy ist das grösste internationale Forschungsprogramm zum Vergleich von Demokratien.
Beteiligt sind u.a. 18 Projektmanagerinnen, 170 Länderkoordinatoren und 3000 Länderexperten.
Sie bewerten die Qualität der politischen Systeme von 202 Ländern anhand von über 470 Kriterien. Dies über den Zeitraum von 1789 bis 2018.
Neu sind die Indikatoren neue «Ausgrenzung» und «digitale Gesellschaft».
Die Datenbank enthält heute knapp 27 Mio. Datenpunkte.
Sitz des V-Dem-Instituts ist an der Universität Göteborg in Schweden.
Die Forschenden registrierten auch einen positiven Trend auf lokalem und regionalem Level. Dort ist insbesondere die Wahldemokratie im Kommen.
Viktor Orbán und die Folgen
Ungarn schenken die Autoren besondere Beachtung. 2010 hatte Premierminister Viktor Orbán das Land von der liberalen Demokratie zur Wahldemokratie degradiert. Seither treibt er die Erosion unter anderen in den Bereichen Medienvielfalt und Freiheit der Wissenschaften weiter voran.
Ungarn stehe deshalb heute «am Rande eines Zusammenbruchs zur Wahlautokratie», so der Bericht. Sollte dieser Zusammenbruch tatsächlich stattfinden, wäre Ungarn die erste ehemalige liberale Demokratie, die in jüngster Zeit den Schritt zu einem hybriden Regime vollziehen würde.
Orbán unterhält gute Kontakte zu gleichgesinnten konservativen Führern in Europa und zu US-Präsident Donald Trump. Die Autoren befürchten, dass diese Verbindungen für weitere Verschlechterungen sorgen könnten, was die Demokratie betrifft.
Die Autorinnen und Autoren erstellten auch eine Art rote Liste. Darauf figurieren jene zehn Länder, die bis 2020 die höchsten Risiken aufweisen, Autokraten in die Hände zu fallen. Aufgelistet sind neben Ungarn unter anderen die Philippinen, Fidschi, Mali oder Guatemala.
Die Autoren befürchten unter dem Strich, dass es «innerhalb des Spektrums der demokratischen Regimes eine Abkehr von der liberalen Demokratie stattfindet.»
Am anderen Ende der Skala führen Norwegen, Schweden, Dänemark, Estland und die Schweiz den Index der liberalen Demokratien an.
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