Direkte Demokratie und Stierkampf – delikat, delikat
Gut zehn Jahre nach Ende des bewaffneten Kampfes der Terrororganisation ETA ist im spanischen Baskenland die Mitsprache der Bürgerinnen und Bürger hoch im Kurs. Kein Zufall, dass San Sebastian, baskisch Donostia, vom 16. bis 19. November Gastgeberin des Demokratie-Weltgipfels 2016 ist. Aber in Europas diesjähriger Kulturhauptstadt kämpft die direkte Demokratie mit Startschwierigkeiten. Eine Abstimmung darüber, ob städtische Gelder für Stierkämpfe verwendet werden sollen, ist in ein veritables Hickhack ausgeartet.
Dieser Beitrag ist Teil von #DearDemocracy, der Plattform für direkte Demokratie von swissinfo.ch.
Kulturhauptstadt 2016, Hochburg in Sachen Spitzengastronomie: San Sebastian/Donostia hat sich auf fast wundersame Weise aus dem Würgegriff des jahrzehntelangen blutigen Terrors befreit und blüht nun richtiggehend auf.
Ein Indiz dafür: In keiner anderen Stadt der Welt ist die Dichte an Gourmetpäpsten der Spitzenklasse höher als in der malerischen Stadt im Golf von Biskaya.
Der Ort verfügt auch über eine starke Bürgerbewegung, welche die direkte Demokratie vorantreibt. Dass aber die Bäume der Bürgerbeteiligung nicht in den Himmel wachsen, hat stark mit der Zentralgewalt in Madrid zu tun. Dort ist der Wille, Macht zu teilen, nicht sehr ausgeprägt.
Und genau hier kommt das Weltforum für moderne Demokratie 2016Externer Link ins Spiel: Die baskischen Gastgeberinnen und Gastgeber erhoffen sich von den Fachleuten aus aller Welt Inputs, wie sie die Lokaldemokratie in Donostia/San Sebastian stärken können, trotz Widerstand aus Madrid.
Hoffnungsvoller Anfang
Im April 2015 nahm die Regierung der Stadt San Sebastian einstimmig eine neue Gemeindeverordnung für Bürgerbefragungen an. Sie hat sich verpflichtet, das Mitspracherecht der Bürger zu fördern, da die Gemeindeverwaltung im Dienst der Bürger stehe.
Darin verankert sind echte Volksrechte, insbesondere Initiativen, über welche die Bürger anschliessend an der Urne abstimmen. Voraussetzung ist, dass 5% der eingetragenen Bürgerinnen und Bürger, dies entspricht rund 8000 Personen, das Begehren unterzeichnen. Die Frist dafür beträgt 180 Tage. Weitere Voraussetzung: Das Begehren muss im Zuständigkeitsbereich der Gemeinde liegen. Ein Stolperstein, wie sich zeigen wird.
Global Forum on Modern Direct Democracy 2016
Die 6. Ausgabe des «WEF der direkten Demokratie findet vom 16. bis 19. November in Donostia/San Sebastian (Spanien) statt.
Erwartet werden rund 200 Vertreterinnen und Vertreter aus über 30 Ländern. Die Teilnehmenden stammen aus Politik und Verwaltung, Medien und Wissenschaft sowie von Nichtregierungs-Organisationen.
Die drei Hauptthemen sind: 1) Die Städte als «Motoren» der lokaldemokratischer Entwicklung. 2) die Funktion der Medien in der direkten Demokratie. 3) Der Streit um und die Zukunft der direkten Demokratie nach dem Brexit-Plebiszit.
Am Global Forum steht explizit die Demokratie-Praxis im Vordergrund; Panels und Workshops machen den Hauptteil des Programms aus.
swissinfo.ch mit der zehnsprachigen Demokratieplattform #DearDemocracy ist Medienpartner der Veranstaltung. Ein Team von Journalistinnen und Journalisten berichtet in Blogs sowie auf Facebook und Twitter vom Anlass.
Im Oktober 2015 lancierte eine Bürgervereinigung namens Donastia Antitaurina OrainExterner Link ein erstes solches Referendum. Die Frage an die Bürgerschaft: Soll die Stadt öffentliche Gelder aus der Gemeindekasse für Stierkämpfe verwenden? Die Frage lautete also nicht, ob die Bürger für oder gegen Stierkämpfe sind. Amaia Agirreolea, die Verantwortliche für Bürgerbeteiligung in San Sebastian, betont dies ausdrücklich. Denn: «Die Bewilligung von Stierkämpfen liegt nicht in unserer Entscheidungshoheit». Darüber kann laut Agirreolea, einzig die Zentralregierung in Madrid entscheiden.
Einsprache gegen die Verordnung
Der Start der Premiere verläuft wie geschmiert. Dann aber kommt das Veto aus Madrid: Auf Verlangen des Delegierten der Zentralregierung im Baskenland (baskisch Euskadi) verlangt die Staatsanwaltschaft die Aufhebung der Verordnung. Das oberste baskische Gericht gibt der Staatsanwaltschaft im Mai 2016 recht.
Begründung: Die Verordnung von 2015 widerspreche dem spanischen Grundgesetz für Lokalregierungen, weil es die Anforderungen für Volksabstimmungen unterlaufe, erklärt Miguel Presno, Professor für Verfassungsrecht an der Universität von Oviedo (Asturien).
Das Grundgesetz ermöglicht, «dass die Bürgermeister Volksbefragungen durchführen können, die im Kompetenzbereich der Gemeinden liegen.» Davon ausgenommen sind Fragen der kommunalen Finanzen.
Gegen die Ungültigerklärung erhoben die Behörden San Sebastiens Einsprache. Sie gingen davon aus, dass bis zum endgültigen Gerichtsentscheid die Verordnung weiterhin gültig sei. Das Datum für die Volksabstimmung wurde auf den 19. Februar 2017 festgesetzt.
Was macht die Regierung Rajoy?
Doch die Staatsanwaltschaft goutiert auch diesen Schritt nicht. Ende September gibt ein Gericht von San Sebastián klein bei und sagt den Urnengang ab.
Doch Aufgeben kommt für die Stadtregierung nicht in Frage. Ende Oktober beschliesst die Lokalregierung, gestützt auf das spanische Grundgesetz, in Madrid um die Bewilligung der Abstimmung zu ersuchen.
Wie es jetzt unter der erst wenige Wochen alten Regierung von Mariano Rajoy weitergeht, ist offen. Hohe Priorität dürfte die baskische Anfrage in Madrid aber kaum haben.
Der Staat der Selbstverwaltungen
Mit der Verfassung von 1978 wandelt sich Spanien vom zentralistischen Einheitsstaat unter General Franco zu einem dezentralisierten Staat. Das Land setzt sich aus 17 Regionen und den Städten Ceuta und Melilla (in Nordafrika) zusammen. Sie alle verfügen über einen Autonomiestatus.
Im Falle Kataloniens, des Baskenlands und Galiziens umfasst dieser auch die offizielle Sprache (Katalanisch, Baskisch und Galizisch).
Präzedenzfall Katalonien
Die Gemeindeverordnung für Bürgerbefragungen in San Sebastián wurde nur fünf Monate nach der umstrittenen Abstimmung über die politische Zukunft Kataloniens im November 2014 angenommen.
Die Staatsanwaltschaft argumentierte u.a. damit, dass die Verordnung nicht bindende Bürgerbefragungen vorsehe, die jedoch in der Tat einem «rechtsgültigen Referendum» entsprechen und das katalonische Gesetz von 2014 kopieren würde.
Verfassungsrechtler Presno weist darauf hin, dass hier zwei Sachen vermischt würden. «In Spanien herrscht Verwirrung darüber, was ein Referendum ist und was nicht. Und wer überhaupt dazu aufrufen kann.»
Wer darf überhaupt abstimmen?
Sicher ist nur: Für die Teilnahme an der (vertagten) Abstimmung gilt das staatliche Gesetz und nicht die kassierte Verordnung der Lokalregierung. Konkret: Stimmberechtigt sind Bürger über 18 Jahre mit spanischem Pass oder jenem eines EU-Mitgliedstaates.
Aufgrund der gestoppten Verordnung hätten dagegen alle abstimmen können, die im Einwohnerverzeichnis figurieren und über 16 Jahre alt sind. Also sämtliche Bürger unabhängig ihrer Herkunft.
Was uns Schweizern spanisch vorkommt: Volksbefragungen auf lokaler Ebene sind in Spanien nie bindend. «Doch es wäre ein politischer Fehltritt, wenn San Sebastians Stadtregierung den Volksentscheid nicht respektieren würde», betont Miguel Presno.
Bürgermeister Eneko Goia versichert seinerseits, dass er den Willen der Bürger respektieren werde. Falls der Entscheid an den Urnen «überzeugend» ausfalle…
Kommt Ihnen Lokaldemokratie in Spanien spanisch vor? Schreiben Sie uns in den Kommentaren!
(Übertragung aus dem Spanischen: Regula Ochsenbein)
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