Der Schweizer Föderalismus: Wie er gelebt wird und woher er kommt

Im viersprachigen Land mit 26 Kantonen ist der Föderalismus ein in Bevölkerung und Politsystem tief verwurzeltes Prinzip.
Der Schweizer Föderalismus ist eine Säule des politischen Systems der Schweiz.
Heute ist die Schweiz ein viersprachiges Land, das sich als Willensnation versteht – im Kontrast zu Ländern, die sich über eine einheitliche Kultur oder gar Ethnie definieren.
Doch die Ursprünge dieses Staates liegen in mittelalterlichen Bündnissen zwischen Kantonen und Orten. «Foedus» ist lateinisch und bedeutet «Bund, Bündnis».
Nach einem kurzen Bürgerkrieg gründete sich 1848 die moderne Schweiz als föderaler Staat. Aus einem Staatenbund wandelte sie sich zum Bundesstaat, was den Verlierern des Bürgerkriegs – kleinen konservativen Kantonen – missfiel.
Dass der Staat, den die Konservativen nicht wollten, ein föderaler ist, war ein Zugeständnis an diese. Damit sie ihre Position und ihre Interessen repräsentieren konnten.
Föderalismus in der Schweizer Bevölkerung verankert
Der Föderalismus wird bis heute von der Schweizer Bevölkerung geschätzt. Eine australische Studie von 2021Externer Link verglich, wie sehr die Menschen in dezentral und zentralistisch organsierteren Ländern hinter den Leitgedanken des Föderalismus stehen. Im Mittel kam die Studie zum Schluss, dass die Werte einer föderalen Verfassung in der Schweiz am stärksten verbreitet sind – und in Belgien am schwächsten.
Das Verständnis dafür, dass sich die Landesteile auch in nationalen Angelegenheiten beteiligen, war nirgendwo so ausgeprägt wie in der Schweiz.
Ebenfalls sehr hoch, wenn auch leicht schwächer als in Deutschland, ist die Überzeugung, dass die verschiedenen politischen Ebenen kooperieren und die unterschiedlichen Verantwortlichkeiten respektieren sollten.
Das Subsidiaritätsprinzip und die «Kompetenz der Kantone»
Der Schweizer Bundesstaat gliedert sich in 26 Kantone und gut 2100 Gemeinden. Bund, Kantone und Gemeinden sind die drei politischen Ebenen in der Schweiz. Wie in anderen Staaten, die föderal aufgebaut sind – beispielsweise Kanada, die USA oder Brasilien – gilt das Subsidiaritätsprinzip.
Das bedeutet: Die Gemeinden entscheiden über ihre Angelegenheiten frei, im Rahmen der Gesetze von Kanton und Bund. Aufgaben, welche die Gemeinden nicht erfüllen können, werden von Kanton oder Bund übernommen. Die Kantone wiederum sind frei, wo sie keine nationalen Gesetze einschränken.
Die Gemeinden treten gegenüber den höheren Ebenen für ihre Interessen ein, ebenso wie die Kantone gegenüber dem Bund.
Die Schweizer Bundesverfassung regelt, dass die Kantone «an der Willensbildung des Bundes» mitwirken. Die Politikwissenschaftlerin Rahel Freiburghaus schreibt in ihrer Dissertation über die Weise, wie Kantone manchmal ihr Eigeninteresse durchsetzen wollen, von einem «Bundesverfassung ritzende[n] Kantonslobbying».
Spätestens in der Corona-Pandemie ist die «Kompetenz der Kantone» zum geflügelten Wort geworden: Es gab Zeiten während der Pandemie, in denen man in Basel an geschlossenen Restaurants vorbei zum Bahnhof lief und nach einer Stunde Zugfahrt die Leute in Bern beim ausgelassenen Glühweintrinken beobachten konnte.
Während manchen Phasen der Pandemie konnten die Kantone über Schliessungs- und andere Massnahmen selbst entscheiden.
Das Ständemehr
Zur selben Zeit – Ende November 2020 – scheiterte erstmals seit den 1950er-Jahren eine Volksinitiative am StändemehrExterner Link. Die «Konzernverantwortungsinitiative» wollte Schweizer Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen im Ausland haftbar machen.
Eine knappe Mehrheit der Abstimmenden wollte das auch – aber die Initiative überzeugte nur in einer Minderheit der Kantone.
Bei jeder Verfassungsänderung – auch im Rahmen von obligatorischen Referenden – müssen Volksabstimmungen nicht nur eine Mehrheit der Bevölkerung überzeugen, sondern auch Mehrheiten in mehr als der Hälfte der 26 Kantone erlangen.
Bis ins 19. Jahrhundert, vor der modernen Schweiz, entschieden die Kantone im Staatenbund alles über ein Ständemehr: Die Mehrheit der Kantone entschied über alle Angelegenheiten, die die ganze Schweiz betrafen.
Das Ständemehr bei Volksabstimmungen und der Ständerat sind die zwei bereits seit der Staatsgründung 1848 bestehenden Institutionen, damit die kleinen Kantone starke Hebel zur Vertretung ihrer Interessen haben.

Mehr
Unser Demokratie-Newsletter
Der Ständerat
In schweizweiten Fragen haben kleine Kantone seit 1848 ihre Vertretung durch den Ständerat garantiert. Der Ständerat ist, neben dem Nationalrat, die zweite Parlamentskammer der Schweiz. Entscheide des Parlaments müssen von beiden Parlamentskammern abgestützt sein.
Im Ständerat repräsentieren zwei Vertretende ihren Kanton. Aus historischen Gründen haben einige Kantone nur einen Sitz im Ständerat. Der Ständerat ist nach dem Vorbild des Senats in den USA modelliert.

Mehr
Sister Republics: Was die Geschichte der USA und der Schweiz verbindet
Akzeptanz für den Bundesstaat statt Staatenbund
Nach den ersten Jahrzehnten im Schweizer Bundesstaat setzten sich ab den 1870er-Jahren die in der Minderheit befindlichen Konservativen und Föderalisten aus der französischen Sprachminderheit mit Motionen im Parlament und mit Referendumsabstimmungen gegen eine Verfassung ein, die ihren Werten zu sehr widersprach.
Mit diesem Vorgehen haben diese «ein grundsätzliches Ja zum Bund» signalisiert, wie die Politikwissenschaftler Felix Buchli und Dieter Freiburghaus schreiben. Das Ziel einer Schweiz als Staatenbund hat seither keine bedeutende politische Kraft mehr verfolgt.
Schweizweite Steuern: Provisorisch seit dem 1. Weltkrieg
Trotzdem sollte es noch bis 1915 dauern, bis der Schweizer Bundesstaat eine eigene Steuer auf Einkommen und Vermögen einziehen durfte.
Dass der Schweizer Staat auf Bundesebene Steuern einziehen darf, ist sogar bis heute ein Provisorium. Zuletzt verlängerten die Schweizer:innen in einer Volksabstimmung die rechtlichen Grundlagen für Steuern durch den Bund im Jahr 2018. Eine Nein-Mehrheit hätte den Schweizer Bundesstaat mehr als die Hälfte seiner Einnahmen gekostet. Doch 84,1% waren dafür. Momentan gilt das Provisorium bis 2035.
Entsprechend werden die Stimmberechtigten im viersprachigen Land mit 26 Kantonen in den nächsten 10 Jahren wieder darüber abstimmen, ob der Bundesstaat Steuern erheben darf.

Mehr
Wie funktioniert das System der direkten Demokratie in der Schweiz?
Editiert von Mark Livingston

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch