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Die direkte Demokratie als «Heilmittel» für Italien

"Die direkte Demokratie ist ein Garant für die repräsentative Demokratie": Dies die These von Buchautor Leonello Zaquin (links). Ricardo Volpe

In der Schweiz gibt es neben dem Parlament als wichtigstem Organ der repräsentativen Demokratie eine direkte Demokratie – mit Volksabstimmungen. Gemäss Leonello Zaquini, der soeben ein Buch über das politische System der Schweiz publiziert hat, macht diese Kombination die Stärke des eidgenössischen Modells aus. Deshalb sollte es europaweit Schule machen.

Leonello Zaquini, ein italienischer Ingenieur, der in die Schweiz emigriert ist, sitzt an seinem Wohnort Le Locle (Kanton Neuenburg) im StadtparlamentExterner Link. In seiner Wahlheimat hat er sich zu einem glühenden Verfechter des Schweizer Politsystems entwickelt. Soeben hat er das Buch «La democrazia diretta vista da vicino»Externer Link («Die direkte Demokratie aus der Nähe betrachtet») veröffentlicht. Dieses direktdemokratische System sollte Vorbild für Italien und die EU sein, meint der Autor. swissinfo.ch traf ihn zu einem Gespräch.

swissino.ch: Was hat Sie dazu veranlasst, ein Buch zu schreiben, das den Italienern erklärt, wie die direkte Demokratie in der Schweiz funktioniert?

Leonello Zaquini: Letztlich hat mich die Hoffnung angetrieben, dass Italien dereinst das Schweizer Modell übernimmt. Natürlich müsste es angepasst werden, es lässt sich nicht 1:1 übernehmen. Doch die Italiener sollten sich von diesem Modell inspirieren lassen und so ihr krankes politisches System heilen.

Die Schweiz verfügt über einen grossen Reichtum, nämlich über eine Demokratie, die sich über Jahrhunderte gefestigt hat. Ich möchte, dass man dies in Italien zur Kenntnis nimmt.

Es ist wichtig, dass die Italiener wissen, dass es ein Land gibt, in dem die Wahlgesetze vom Volk abgesegnet werden müssen. In Italien hat das Parlament das letzte Wort zum Wahlgesetz. So macht man ein schlechtes Wahlgesetz, das von einem weiteren schlechten Wahlgesetz abgelöst wird, und so geht es immer weiter.

Das Buch

Das Buch «La democrazia diretta vista da vicino» (Die direkte Demokratie aus der Nähe betrachtet) von Leonello Zaquini ist im Januar 2015 im Verlag Mimesis erschienen. Es handelt sich nicht um eine politikwissenschaftliche Abhandlung zur direkten Demokratie, sondern eher um einen leidenschaftlichen Erlebnisbericht. In diese persönliche Erzählung werden Gedanken und Ideen sowie historische Exkurse eingestreut.

Zaquini lebt seit 1997 in der Schweiz. Sein politisches Engagement begann mit dem Unterzeichnen einer Volksinitiative und führte bis zu einem Sitz in der städtischen Legislative als Vertreter der Arbeiterpartei in seiner Heimatstadt Le Locle. Im Kanton Neuenburg haben Ausländer auf kommunaler und kantonaler Ebene das aktive und passive WahlrechtExterner Link. An Eidgenössischen Wahlen können nur Schweizer Stimmbürger teilnehmen.

Ich habe die beiden Systeme verglichen und kam zum Schluss, dass die Kombination aus repräsentativer, parlamentarischer und direkter Demokratie eine wirksame Arznei ist, um viele Übel der Politik zu beseitigen.

swissino.ch: Die Schweiz ist ein kleines und föderalistisches Land. Sind Sie sich sicher, dass das Schweizer System auch in einem grossen und zentralistischen Land funktionieren kann?

L.Z.: Die Instrumente der direkten Demokratie wurden von Staaten eingeführt, die wesentlich grösser sind als die Schweiz und andere politische Systeme kennen. Denken wir nur an Kalifornien mit seinen 40 Millionen Einwohnern. Dort wurde die direkte Demokratie vor über 100 Jahren eingeführt. Das sollte als Beweis genügen.

Die EU hat vor einigen Jahren mit der Europäischen Bürgerinitiative (EBI)Externer Link ein direktdemokratisches Instrument geschaffen. Es ist noch ein sehr schwaches Instrument, aber es ist ein erster Schritt und ein wichtiges Zeichen. Im Übrigen können für eine EBI auch Unterschriften via Internet gesammelt werden. Diese Möglichkeit wäre auch ein Fortschritt für die Schweiz, denn das Sammeln von Unterschriften wird so wesentlich erleichtert.    

Dazu kommt eine weitere Überlegung: Warum sollten Bürger nicht in der Lage sein, über konkrete Sachthemen abzustimmen, wenn sie als mündig betrachtet werden, die Repräsentanten im Parlament zu wählen? Es ist doch viel schwieriger, Personen zu wählen, von denen man nie genau weiss, was sie letztendlich tun, als sich eine Meinung zu einem bestimmten Thema zu bilden.

swissino.ch: Aber es gibt doch sehr schwierige und komplexe Fragen. Nicht alle Bürger sind in der Lage, darüber zu befinden.

L.Z.: Das stimmt. Doch das Problem lässt sich lösen. Stimmbürger sollten sich lieber enthalten, als falsch zu entscheiden. Ich habe festgestellt, dass viele Stimmbürger so entscheiden. Ich finde dies sehr korrekt.

Auch wenn die effektiv Wählenden nur eine Minderheit der Gesamtwählerschaft darstellen, sind sie immer noch weitaus zahlreicher und repräsentativer als ein Parlament. Die direkte Demokratie nutzt die Intelligenz, die unter Millionen von Bürgern verteilt ist, für das Wohl der Allgemeinheit. Der Wählerwille, der sich durch eine Volksabstimmung manifestiert, ist somit immer noch repräsentativer als von jeder denkbaren Legislative.

Volksinitiative und Referendum

Unter einer Eidgenössischen Volksinitiative versteht man in der Schweiz eine Initiative zur Änderung der Bundesverfassung. Ein neuer Verfassungsartikel kann hinzu kommen oder ein bestehender gestrichen werden. Die Initianten einer Volksinitiative müssen innerhalb von 18 Monaten mindestens 100’000 Unterschriften sammeln, damit diese Initiative dem Volk zur Abstimmung vorgelegt wird.

Im Falle eines Zustandekommens der Volksinitiative wird die Vorlage von Regierung und Parlament beraten. Es werden Empfehlungen zu Händen des Stimmvolkes gefasst. Zur Annahme einer Volksinitiative ist ein doppeltes Mehr nötig: Ein Mehr aller Stimmbürger sowie ein Mehr der Stände (Kantone).

Ein fakultatives Referendum kann hingegen gegen Bundesgesetze, Erlasse oder internationale Verträge ergriffen werden. Es ist also das Vetorecht des Volkes par Excellence. Zum Zustandekommen eines Referendums sind 50’000 Unterschriften nötig, die innerhalb von 100 Tagen gesammelt werden müssen. Darüber hinaus unterstehen Verfassungsänderungen dem obligatorischen Referendum.

Natürlich begeht auch das Stimmvolk Fehler. Doch es ist unwahrscheinlicher, dass sich Millionen von Bürger irren als eine kleine Zahl von Parlamentariern.

swissinfo.ch: Sie scheinen in die Schweizer Demokratie verliebt zu sein. Könnte es nicht sein, dass sie die Stärken dieses Systems überschätzen, aber die Schwächen kaum wahrnehmen?

L.Z.: Diese Frage habe ich mir auch gestellt. Doch meine Antwort lautet: Nein. Ich habe ein Kapitel meines Buches den Grenzen und Nachteilen der direkten Schweizer Demokratie gewidmet.

Man muss sich immer bewusst sein, dass alle Entscheidungssysteme Nachteile haben. Auch das Schweizer System ist nicht perfekt. Daher musst man daran arbeiten, auch dieses System weiter zu verbessern. Trotzdem kann ganz Europa von diesem System sehr viel lernen.

swissinfo.ch: Können Sie uns die beiden wichtigsten Punkte nennen, die im Schweizer Politsystem verbessert werden müssten?

L.Z.: Der erste Punkt betrifft den Mangel an Transparenz bei der Finanzierung von Abstimmungen. Man könnte die Pflicht zu einer Offenlegung der Finanzierung in einer Norm regeln.

Der zweite kritische Punkt ist sicherlich, dass politische Parteien das Mittel der Volksinitiative immer häufiger als Propaganda-Instrument für Wahlzwecke missbrauchen. Das sollte eigentlich verboten sein, aber ich bin mir bewusst, dass ein solches Verbot kaum einführbar sein wird. Aber ich wiederhole: Referendum und Volksinitiative sollten eigentlich Instrumente für das Volk oder Verbände sein.

swissinfo.ch: Und welche sind die beiden grössten Vorteile des Schweizer Systems?

L.Z.: Der grösste Vorteil liegt darin, dass durch dieses System das Monopol des Parlaments im Gesetzgebungsverfahren gebrochen wird. Letztlich spannen die gewählten Repräsentanten und die Bürger mit ihren jeweiligen Befugnissen zusammen, denn die repräsentative und die direkte Demokratie stehen nicht im Widerspruch zueinander, sondern ergänzen sich.

Die direkte Demokratie ist ein Garant für die repräsentative Demokratie. Die Parlamentarier wissen, dass alle ihre Entscheidungen vom Volk aufgehoben werden können. Und allein schon dieses Bewusstsein entfaltet eine Wirkung.

In Ländern, die nur eine repräsentative Demokratie kennen, liegt das Monopol der Macht über die Gesetzgebung bei der Legislative. Die Parteien erobern und halten dies Macht über ihre Volksvertreter, die aber in Wahrheit Delegierte der politischen Parteien sind. Eine direkte Demokratie, welche die repräsentative Demokratie flankiert, wirkt wie ein Gegengift gegenüber solchen Auswüchsen. 

(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

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