Die Volksinitiative, die niemand verstand
206 in 125 Jahren: Über so viele Initiativen hat das Schweizer Stimmvolk seit 1891 abgestimmt. Damals wurde das wichtigste Volksrecht in der Bundesverfassung verankert. Wohl kaum jemand weiss darüber besser Bescheid als Hans-Urs Wili, während 40 Jahren Verantwortlicher der Bundeskanzlei für die Volksrechte. Im folgenden Beitrag beschreibt er ein Begehren, bei dem selbst er lange nicht verstand, um was es ging.
Nach der Vorprüfungsverfügung der Bundeskanzlei vom 28.04.1998Externer Link konnten vom 12. Mai 1998 bis zum 12. November 1999 die Unterschriften für eine neue Eidgenössische Volksinitiative gesammelt werden. Ihr Titel lautete: «Die persönliche Souveränität der Bürger (Einrichtung einer Fachkommission des Senats einer ‹Schweizerischen Akademie für Technik, Lebensfragen und Wissenschaft› als oberste Gerichtsinstanz)».
Die Volksinitiative wollte die Bundesverfassung durch einen neuen Artikel 64quater mit dem folgendem, etwas sonderbaren Wortlaut ergänzen:
125 Jahre Schweizer Volksinitiative: Dieser Beitrag ist Teil des Jubiläums-Schwerpunktes von #DearDemocracy, der Plattform für direkte Demokratie von swissinfo.ch,
«1Der Bund gewährleistet die Souveränität des Volkes gegenüber staatlicher und richterlicher Willkür durch Sicherung der Unverletzbarkeit der persönlichen Grund- und Menschenrechte des Einzelnen durch die erforderliche Rechtsprechung für die unverfälschte Durchsetzung der materiell-rechtlichen Inhalte der Gesetze.
2Grund- und Menschenrechte des Souveräns sind für die Rechtsprechung vollzählig gesondert aufgelistet und für den Einzelnen allgemeinverständlich kommentiert.
3Streitende Parteien treten als eine gemeinsame Partei gegen die Partei der Vertreter des öffentlichen Interesses für die Unantastbarkeit des materiellen Rechts bei Gericht an.
4Das Gericht bestätigt nur den realen materiellen Tatbestand und bestimmt die massgebenden Faktoren bei den Parteien für seine rechtliche Bewertung. Das Urteil wird elektronisch ausgearbeitet und für die einzelnen Elemente seiner Begründung den Parteien zur Bestätigung überprüfbar vorgelegt. Für die Beseitigung nachweisbar unterlaufener Fehler tagt erneut das gleiche Gericht.
5Den Ablauf der Gerichtsverfahren legen nach einheitlichen Grundsätzen im Einklang zu dieser Verfassung die Kantone in ihren Prozessordnungen fest.
6Ueber die Rechtskraft eines rechtlich begründeten, jedoch individuell parteiumstrittenen Gerichtsurteils entscheidet im allgemeinen Interesse die Fach-Kommission des Senats der ‚Schweizerischen Akademie für Technik, Lebensfragen und Wissenschaft‘ in öffentlicher Anhörung definitiv als letzte Instanz.»
Unterschriften für die Volksinitiative wurden allerdings niemals eingereicht; die Sammelfrist nach Artikel 69 Absatz 4 und Artikel 71 Absatz 1 des Bundesgesetzes vom 17. Dezember 1976 über die politischen RechteExterner Link lief unbenützt abExterner Link.
Die Kasse war das Ziel
Spiritus rector der Volksinitiative im Hintergrund war ein eingebürgerter pensionierter medizinischer Privatdozent, dessen Forschungsergebnisse von der Schweizer Schulmedizin nicht anerkannt wurden und der nicht hatte verwinden können, dass er niemals Professor geworden war.
So scharte er einige Anhänger um sich, versprach Heilung von Krebs und Drogenabhängigkeit und versuchte, mit Hilfe ihres Beitritts zu einer Organisation von Menschen im dritten Alter – neudeutsch würde man heute sagen: durch einen «unfriendly takeover» – in den Besitz der Vereinskassen der «Grauen Panther» zu kommen, um seinen Ideen den Durchbruch zu finanzieren. (Die «Grauen Panther» waren eine damalige Partei für die Belange der Rentnerinnen und Rentner, die Red.)
Es war ihm u.a. gelungen, 1995 den berühmtesten Schweizer Trompeter und Bandleader der Sechzigerjahre zu einer Nationalrats-Kandidatur für die eidgenössischen Parlamentswahlen zu bewegen. Und das auf einer der Listen der «Verfassungsschutz-Bewegung ‹Graue Panther Schweiz GPS› für die persönliche Souveränität mit dem ‹Recht auf Recht› der Bürger und die Heilung der Drogen- und Krebskranken“ in den Kantonen ZürichExterner Link, LuzernExterner Link und St. GallenExterner Link.
Den Sprung nach Bern schaffte niemand.
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