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Diese Schüler:innen sind bereit für Moldaus Demokratie – auch dank Schweizer Mittel

«Bildung für die Gesellschaft» ist ein beliebtes Schulfach in Moldau. Es steht für die fortschrittlichste Pädagogik und wird wesentlich von Schweizer Mitteln finanziert. Auf Klassenbesuch in einer russisch- und einer rumänischsprachigen Schule.

Die Constantin Sibirschi-Schule in Chisinau pflegt ihre Tradition, bis in die Sowjetzeit hinein. Klassenfotos verschiedener Generationen zieren die massiven Mauern, teils farbig, teils in Graustufen. «Viele, die sich hier kennenlernten, haben später geheiratet», erzählt Schuldirektorin Aurelia Andries, die selbst einst hier zur Schule ging.

Ihren eigenen Lehrer:innen sei sie sehr dankbar. «Mein Geschichtslehrer forderte uns immer auf, die Verbindungen zu knüpfen zwischen dem, was jetzt passiert und dem Historischen», sagt Andries.

Klassenbilder
Die Klassenfotos vieler Jahrzehnte dekorieren die Wände der Constantin Sibirschi-Schule in Chisinau. Vera Leysinger / SWI swissinfo.ch

All die Gesichter, die jetzt an denselben Wänden hängen, erlebten nicht denselben Unterricht. In der Sowjetunion mussten sie zwischen den Zeilen lesen. «Es gab viel Zensur. Wir mussten uns ausdrücken, ohne uns in Gefahr zu bringen.» Doch für Andries war diese spezielle Schule damals jener Ort, wo sie kritisches Denken lernte.

Sie ist ihren Lehrer:innen dankbar dafür. Hat damals die ganze Klasse verstanden, dass die Lehrer:innen sie zum Hinterfragen motivierten? Andries schüttelt den Kopf. Höchstens fünf in ihrer Klasse.

Das Fach «Bildung für die Gesellschaft»

«Heute können wir die Dinge direkter angehen», sagt sie. «Bildung für die Gesellschaft» ist Teil des Lehrplans.

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Auch in den letzten 33 Jahren des unabhängigen Moldau hat sich die Schule verändert.

Aus dem Fach «Wir und das Gesetz» wurde «Staatsbürgerliche Bildung», das seit fünf Jahren als neu aufgestelltes Fach «Bildung für die Gesellschaft» der Stolz von fortschrittlichen Pädagog:innen und bei Schüler:innen beliebt ist. Wohl auch, weil keine Noten verteilt, sondern Berichte zu Kompetenzen verfasst werden.

Aurelia Andries
Die Schuldirektorin Aurelia Andries der Constantin Sibirschi-Schule ist ihrem Geschichtslehrer dankbar, dass er ihr auch in der Sowjetunion das kritische Denken beigebracht hat. Vera Leysinger / SWI swissinfo.ch

«Bildung für die Gesellschaft» bietet Aufklärung über die Demokratie, soll zivilgesellschaftliche Werte vermitteln – und kritisches Denken. Das Schulfach wurde ausgestaltet von einem Projekt des Europarats in Moldau. Finanziert ist dieses wesentlich von der Schweizer Internationalen Zusammenarbeit DEZA: Von 2018 bis 2022 mit insgesamt 1,2 Millionen Franken und nochmals einem ähnlichen Betrag von 2022 bis 2026.

Das Schweizer Aussenministerium nennt die Beziehungen zur Republik Moldau «sehr gut» und schildert sie als zunehmend intensiver. Gemäss Aussenministerium gehört die Schweiz 2023 zu den «wichtigsten bilateralen Gebern der Republik Moldau».

Am längsten ist die Schweiz in Moldau im Gesundheitsbereich aktiv, weitere Felder sind wirtschaftliche Entwicklung und Lokalgouvernanz.

Seit Beginn des Kriegs in der Ukraine kam die Unterstützung ukrainischer Flüchtlinge in Moldau hinzu. Schweizer Mittel fliessen unter anderem in den Demokratiebildungsunterricht, der seit fünf Jahren fester Bestandteil der Schulbildung ist.

Die Entwicklung der Demokratie in Moldau wird also auch von der Schweiz mitgeprägt.

Lernen heute also alle Jugendlichen in Moldau kritisches Denken in der Schule? Andries verneint auch das. Es hänge stark vom «Faktor Mensch» ab. «Von Lehrerinnen wie Iana, die den Kindern nicht widersprechen, wenn diese ihre Meinung sagen, sondern erklären und alles darauf setzen, die verschiedenen Meinungen der Kinder zu hören», sagt Andries.

«Es ist gut, gibt es in dem Fach keine Noten», sagt Lehrerin Iana Tonu, «Es geht darum Fähigkeiten zu entwickeln.» Tonu unterrichtet «Bildung für die Gesellschaft» seit es vor fünf Jahren eingeführt worden ist.

Parlamentsbesuche und im Gras meditieren

In «Bildung für die Gesellschaft» besuchen alle Schüler:innen einmal das Parlament. Doch Tonu erzählt von einen anderen Höhepunktsmoment für den ersten Jahrgang, der das Fach die vollen fünf Jahre hatte: «In der letzten Lektion brachte ich die Klasse nach draussen. Um ins Gras zu sitzen, über die Prüfungen nachzudenken und darüber zu meditieren, was sie gelernt haben. Das Feedback war: Dies war das Beste, was wir dieses Jahr irgendwo gemacht haben.»

Im Schulzimmer macht Tonu eher einen energischen Eindruck: «Wacht auf, es ist schon die dritte Stunde!» Sie führt mit dem Digitalprojektor durch das Thema der heutigen Lektion: Moralische Verantwortung und das Gesetz.

Ein grosser Brocken für die etwa Dreizehnjährigen könnte man meinen. Aber die Beispiele dafür, wie man gesetzestreu und trotzdem amoralisch sein kann, fliegen der Lehrerin nur so zu. Gewisse Telefonscams zum Beispiel oder Kredite, die man nie begleichen will.

Danach geht es in die Analyse eines vorbereiteten Falls: Eine Schülerin postet aus Versehen ein peinliches Foto von sich; eine andere Schülerin macht einen Screenshot und verbreitet diesen an der Schule. In Gruppen diskutieren die Schüler:innen, was hier moralische, was hier rechtliche Verfehlungen sind – und tragen das Herausgefundene im Plenum zusammen.

Iana Tonu
Lehrerin Iana Tonu findet es wichtig, dass in der Schule auch Raum für Reflexion besteht. Vera Leysinger / SWI swissinfo.ch

Gesetz und Moral

Sie dröseln auseinander: Es gibt die Betroffene, die Aggressorin – und es gibt Zeug:innen. Wie können, wie sollen sich unbeteiligte Zeug:innen in dieser Situation verhalten? Die Ideen werden gesammelt, die Lehrerin strukturiert. Zum Ende der Lektion führt Tonu sie zu Fragen, die an den gesellschaftlichen Grundfesten rütteln: «Ist das Gesetz wichtiger oder die Moral?» «Könntet ihr in einer Welt ohne moralische Regeln leben?»

Etwas später stellen 13- bis 17-jährige Schüler:innen uns Journalist:innen von SWI swissinfo.ch ähnlich grundsätzliche Fragen: «Hat Sie das Land geprägt, in dem Sie aufgewachsen sind?» «Wie hat es das?» «Wie wären Sie, wenn Sie in einem anderen Land geboren wären?»

Die Schüler:innen versuchen zunächst, nichts Falsches zu sagen. Sie sprechen vom Schüler:innenrat oder ihrem Engagement bei einem Verein zur Förderung der russischen Sprache, um ihr zivilgesellschaftliches Bewusstsein unter Beweis zu stellen. Erzählen von ihren Berufszielen – Ingenieur oder Psychologin – zum Beispiel, und wollen die gesellschaftliche Bedeutung davon herausstreichen. Doch so richtig zeigt sich, wie wach sie sind, als sie am Ende des Interviews den Journalist:innen selber Fragen stellen.

In der Schule von Ialoveni

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An einem anderen Tag gut 10 Kilometer westlich diskutieren etwa 17-jährige Schüler:innen in der «Bildung für die Gesellschaft» ein Problem: Sie sind Unternehmer:innen in der industriellen Fischzucht. Sie könnten mehr fischen, aber das würde den Bestand der Fische schwächen. Wie viel Profit können sie erfischen, ohne gleichzeitig den Bestand zu schwächen? Diese erste Gruppenaufgabe ist Mathematik. Es gibt eine Lösung. Doch die nächsten Aufgaben zum Gegensatzpaar Wettbewerb und Kooperation ergeben nur Widersprüche.

Die Nachteile von Überfischung seien, dass es langfristig keine Fische mehr gibt und aber auch, dass man in der Gemeinschaft isoliert ist, weil die Folgen alle spüren, wenn jemand zu viel fischt. Die Nachteile von Kooperation wiederum können sein: Langsame Entscheidungen, zu wenig Fisch für alle Bedürfnisse. Unerfüllte Bedürfnisse könnten Korruption fördern. Was bleibt, ist Ambivalenz. Der Unterricht fühlt sich an wie eine Lektion im Akzeptieren von Widersprüchen.

Rumänische und Russische Schulen in Moldau

Diese Schule ist ähnlich modern eingerichtet wie diejenige in Chisinau. Aber manche Dinge sind anders: Die Schule in Chisinau ist auch auf Kyrillisch angeschrieben, die Schule in Ialoveni nur mit lateinischen Buchstaben. Die Schule in Chisinau gehört zu den russischsprachigen Schulen. In Chisinau taten sich manche Schüler:innen schwer mit Rumänisch – obwohl sie in einer Stadt leben, wo fast alles Rumänisch beschriftet ist. Knapp 20% der Schüler:innen in ganz Moldau besuchen die Schule auf Russisch.

Die Schule in Ialoveni gehört zu der Mehrheit im Land. Über 80% der Schüler:innen gehen in rumänischsprachige Schulen. Die Stimmung ist hier nicht anders.

Das einzige, was aber auffällt, ist, dass die älteren Schüler:innen in der rumänischen Schule in Ialoveni ihre politische Positionierung explizit machen. Daniel, der Schüler, der als einziger bereits 18 ist, sagt: «Ich werde wählen und abstimmen. Ich fühle, dass ich so für mein Land, auch für meine Kolleginnen und Kollegen, eine bessere Zukunft wählen kann.» Das werde viel ändern. Die Runde um ihn nickt zustimmend.

Sie zeigen sich optimistisch. Die Schülerin Mihaela betont zum Beispiel, die Qualität der Moldauischen Schulen und Universitäten. Sie freut sich darüber, dass Arbeitende und Studierende, Migrant:innen, von anderswo  nach Moldau kommen. «Das macht mich sehr froh. Ich denke, in 10 bis 15 Jahren wird Moldau ein besseres Land sein.» Mihaela überlegt sich, Innendesignerin zu werden.

Hat jemand regelmässig Gespräche mit einer Person, die eine andere Meinung zur Richtung von Moldaus Entwicklung hat? Kurzes Schweigen. David ergreift nochmals das Wort: «Ich glaube nicht. So wie es Mihaela darstellt, ist der korrekte Weg. Und ich sehe keinen anderen.» Schuldirektorin Vera Balan weist daraufhin, dass der Westen Moldaus traditionell sehr proeuropäisch ist.

Vera Balan im Gespräch
Vera Balan ist Schuldirektorin der Petre Stefanuca-Schule in Ialoveni. Vera Leysinger / SWI swissinfo.ch

Der Vater hörte westliches Radio

Balan und Andries – die Direktorin der russischen Schule in Chisinau – kennen sich. Sie gehören einer ähnlichen Generation an. Das merkt man daran, wie sie über das Fach «Bildung für die Gesellschaft» sprechen. Balan sagt: «In der Vergangenheit erlebten wir Verfolgung und sowjetisches Denken. Länder mit einer anderen Geschichte haben vielleicht einen anderen Ansatz, aber für Moldau ist es sehr wichtig, ein Fach zu haben, dass diese demokratischen Prinzipien entwickelt.»

Andries sagt, dass in Moldau besonders viel Druck auf den Schulen laste. Die Kinder verbringen so viel Zeit dort – und zum Teil kaum Zeit mit ihren Eltern. «Ich würde es vorziehen, wenn mehr Wertvorstellungen auch in der Familie vermittelt würden, aber leider passiert es nicht», sagt Andries.

Das kritische Denken habe sie in der Sowjetzeit nämlich nicht nur von ihren Lehrern, sondern auch von ihrem Vater gelernt. Dieser war politisch interessiert und hörte zuhause den amerikanischen Radiosender Voice of America.

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Editiert von David Eugster

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