Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

«Digitale Bürger» als Idee für die Demokratie in der Schweiz – und überall

Eine Besucherin blickt auf den digitalen Zwilling ihres Herzens.
Eine Besucherin testet die vereinfachte virtuelle Version ihres Herzens am Mobile World Congress in Barcelona 2024. EPA/Alejandro Garcia

Auf digitale Zwillinge hoffen viele in der Medizin und der Industrie. Ein ETH-Professor und sein US-amerikanischer Kollege haben eine Idee, wie die Technologie auch die Demokratie in der Schweiz und darüberhinaus revolutionieren könnte.

Digitale Zwillinge kommen momentan in allen möglichen Branchen zur Welt. Ein digitaler Zwilling ist eine Simulation, die alles mitmacht und erlebt, was ihre Entsprechung in der realen Welt tut. Möglich wird das dank der Innovation im Bereich Künstlicher Intelligenz der letzten Jahre.

Computermodelle gibt es schon lange, aber erst heute besteht eine Rechenleistung, die dafür sorgt, dass Modelle die Realität eins zu eins wiedergeben können. Nicht nur die Vorgeschichte wird abgebildet, sondern jeder Umwelteinfluss, jede Druckeinwirkung wird in Echtzeit simuliert.

Digitale Zwillinge in der Medizin

Bereits hat sich eine Läuferin auf dem New Yorker MarathonExterner Link von einem digitalen Zwilling ihres Herzens begleiten lassen. Vorgängig wurde die Struktur und Funktion ihres Herzens gescannt und eine Künstliche Intelligenz mit dem Material trainiert. Während dem Laufen ist dann sichtbar, wie dieses spezifische Herz auf die Belastung reagiert.

Das Ziel der Forschung ist aber die Prognose: Wie reagiert ein bestimmtes Herz in einer bestimmten Situation? Wie wird es auf ein bestimmtes Medikament oder eine bestimmte Behandlung reagieren? Wenn digitale Zwillinge das verlässlich zeigen können, sollen sie die Medizin revolutionierenExterner Link.

Auch in der Schweizer Bevölkerung hoffen viele auf digitale Zwillinge in der Medizin. In einer repräsentativen Befragung der Universität ZürichExterner Link 2023 waren 62% der befragten Schweizer:innen positiv eingestellt.

Können digitale Zwillinge Demokratien resilienter machen?

Doch nicht nur in Medizin und Technik setzen Wissenschaftler:innen auf dieses Konzept der KI-trainierten Simulation. Das Projekt Twin4DemExterner Link, koordiniert von der Erasmus-Universität Rotterdam, hofft Demokratien resilienter zu machen. Mit echten Daten trainierte Simulationen der politischen Systeme von Tschechien, Frankreich, Ungarn und den Niederlanden, inklusive Regierungen, Parlamente, Gerichte und Zivilgesellschaft sollen zeigen, wie es zu Demokratieverlust kommt.

Mehr

Weiss man, welche Akteure verantwortlich sind, hoffen die Wissenschaftler:innen herauszufinden, wie die Institutionen gebaut sein müssen, dass die Demokratie widerstandsfähig ist.

Die Idee von Digital Twin Citizens

Während es bei Twin4Dem um Erkenntnisse für das demokratische System durch digitale Zwillinge geht, hat sich ein Schweizer Wirtschaftsprofessor überlegt, wie digitale Zwillinge dereinst ein neues demokratisches System schaffen könnten, eine sogenannte Supporter Democracy.

Hans Gersbach, Professor für Makroökonomie an der ETH Zürich, und sein US-amerikanischer Kollege César Martinelli schlagen vor, dass alle Bürger:innen einen eigenen Zwilling bekommen.

Hans Gersbach blickt in die Kamera.
Hans Gersbach ist Co-Direktor der Konjunkturforschungsstelle KOF und Professor an der ETH Zürich. Keystone / Michael Buholzer

Diesen nennen Martinelli und Gersbach Digital Twin Citizen. Die Digital Twin Citizens sollen die politischen Meinungen und ethischen Werthaltungen der ihnen zugeteilten realen Bürger:innen nach und nach erlernen – und auf Grundlage von breiten Sachinformationen als stellvertretende KI-Assistenten in Volksabstimmungen einen Vorentscheid treffen. 

Volksabstimmungen würden in zwei Runden stattfinden: Erst stimmen die digitalen Zwillinge ab. Deren Ergebnis wird publiziert und diskutiert. Doch es ist nicht bindend, sondern soll einzig als Stimmungsbild dienen.

Nachdem die Abstimmung der KI-Assistenten öffentliche Diskussionen ausgelöst hat, würden die Bürger:innen aus Fleisch und Blut selber digital abstimmen. Die Menschen passen also die Vorauswahl an, die ihr digitaler Zwilling stellvertretend für sie getroffen hat.

«Ein Weg, die Demokratie auf lokaler Ebene zu retten»

Gegenüber SWI swissinfo.ch nennt Martinelli das Konzept «einen Weg, die Demokratie auf lokaler Ebene zu retten»: Die Bürger:innen in Systemen mit so vielen Volksabstimmungen wie der Schweiz oder Kalifornien müssten gerade auf lokaler und regionaler Ebene viele Entscheide treffen, über die sie nicht informiert seien. Auch «weil sich die Medien mehr und mehr auf nationale Themen konzentrieren». Es sei eine Idee, die Leute mental zu entlasten.

Diese erste Abstimmungsrunde sei «das Gegenstück einer informierten Umfrage», erklärt Martinelli. Die Bürger:innen erfahren, wie ihre digitale Zwillinge Informationen beurteilen und was für eine Mehrheit die KI bildet. Bevor sie selbst die endgültige Entscheidung treffen.

Die Ökonomen haben diese Idee einer Supporter Democracy im KOF BulletinExterner Link der ETH Zürich skizziert. In diesem «aktualisierten Demokratiemodell» könne niemand mehr behaupten, die Bürger:innen seien zu emotional, zu kurzsichtig und zu wenig informiert. Auch, dass ihnen «nötige Anreize» fehlten, um informierte Entscheidungen zu treffen, würde nicht mehr gelten.

Wird Direkte Demokratie so attraktiv für «den Rest der Welt»?

Sie halten es für möglich, dass die Technologie der digitalen Zwillinge die Direkte Demokratie nicht nur in Kalifornien oder in der Schweiz verändert, sondern das System attraktiv für «den Rest der Welt» macht.

Mehr

Der Digital Twin Citizen soll, so Martinelli gegenüber SWI swissinfo.ch, für seine Entscheidungsfindung jene Quellen berücksichtigen, über welche sich auch sein menschliches Gegenstück informieren möchte. Natürlich gebe es keine Garantie, dass die KI dabei nicht auch von Desinformation oder Propaganda beeinflusst werde. Doch könne die KI, so Martinelli, trainiert werden, Desinformation und Propaganda als solche zu erkennen.

«Es freut mich, dass immer mehr Menschen an diesen Ideen arbeiten», teilt César Hidalgo mit, als ihm SWI swissinfo.ch das Konzept von Gersbach und Martinelli vorlegt.

Hidalgo ist heute Professor an der Universität Toulouse. Vor einigen Jahren wurde er einer breiteren Öffentlichkeit durch einen TED-Talk bekannt. Da schlug er als Gedankenspiel vor, Politiker:innen durch digitale Zwillinge der Bürger:innen zu ersetzen. Hidalgo glaubt, solche Innovationen werde es in Zukunft mehr und mehr geben: «Ich denke, dass das explosive Wachstum der KI immer mehr Menschen dazu inspiriert, über den Einsatz digitaler Assistenten als Möglichkeit zur Erweiterung der Bürgerbeteiligung nachzudenken, und wir sollten freies Denken und Experimente in diesem Bereich fördern.»

Reaktion auf Nachfragen zu Automatisierung und Datensicherheit

Die Idee einer Demokratie mit Digital Twin Citizens mutet futuristisch an – und sorgt für zahlreiche Fragezeichen. Manche könnte es beunruhigen, dass der Staat dann über ein digitales Abbild ihrer detaillierten politischen Haltungen verfügen würde.

Jemand nutzt ein Ipad und ein Smartphone parallel.
Wenn der Staat ein detailliertes Abbild der Überzeugungen und Werte seiner Bürger:innen verwaltet, könnte das Bedenken hervorrufen. KEYSTONE/DPA/Bernd Weißbrod

Daneben könnte diese «KI-unterstützte Demokratie» auch Ängste auslösen, weil die Entscheidungsfindung automatisiert würde: Wenn mein digitaler Zwilling so entschieden hat, weshalb soll ich mir die Mühe machen, anders zu entscheiden? Dem Konzept könnten Bedenken begegnen, weil das politische Bewusstsein gewissermassen an einen Autopiloten ausgelagert würde.

Martinelli reagiert auf diese kritischen Fragen beschwichtigend. In der Realität müssten die digitalen Zwillinge «an die Institutionen und Normen der einzelnen Länder» angepasst werden. Die digitalen Zwillinge könne man analog zum Stimmenzählen denken. Sie könnten eine grundlegende Aufgabe der Wahlbehörden sein, «eine Einrichtung, die von den Wahlbehörden koordiniert, aber auch kontrolliert und überwacht wird.»

Entscheidend sei, dass auch mit diesem Hilfsmittel für die Demokratie die «endgültigen Entscheidungen» von Menschen getroffen werden. So dass vom digitalen Zwilling nicht berücksichtigte Informationen ebenso in den Wahlentscheid eingehen könnten wie Gefühle. Denn jede politische Entscheidung sei auch emotional.

Noch keine wissenschaftliche Veröffentlichung zu Digital Twin Citizens

Eine wissenschaftliche Veröffentlichung haben Gersbach und Martinelli zu ihrem KI-Vorschlag noch nicht vorgelegt. «Es ist klar, dass es noch erheblicher Forschung bedarf, um zuverlässige Digital Twin Citizens zu entwickeln und sie in direkten Demokratien einzuführen», betont ETH-Professor Gersbach, der auch Co-Direktor der Konjunkturforschungsstelle KOF ist, gegenüber SWI swissinfo.ch.

Gersbach sieht es als drängend an, dass sich die Demokratie weiterentwickelt. «Im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts» sei die Demokratie durch Digitalisierung und künstliche Intelligenz, aber auch durch autoritäre Staaten mit Herausforderungen konfrontiert, «die sie zwingen werden, sich neu zu erfinden», schreibt er zusammenfassend in einem Beitrag für das wissenschaftliche Magazin Social Choice and WelfareExterner Link. Dort stellt er verschiedene Formen von Demokratie-Innovationen vor.

Mehr

Ein Stimmungsbild ohne digitale Zwillinge?

Eine von Gersbachs Innovationsideen – das Assessment Voting – hat den Grundgedanken mit dem Konzept der Digital Twin Citizens gemeinsam. Doch statt digitale Zwillinge, die erst abstimmen, um eine öffentliche Debatte auszulösen, würde dies gemäss dieser Idee eine zufällige, aber repräsentativ ausgewählte Gruppe von Menschen tun. So könnte also ein Stimmungsbild vor der bindenden Abstimmung die Auseinandersetzung mit einem Thema vorantreiben, ohne dass es dafür digitale Zwillinge bräuchte, die die Wertvorstellungen der Bürger:innen kennen.

Die Idee einer Demokratie mit Digital Twin Citizens wäre momentan in der Schweizer Bevölkerung wohl kaum mehrheitsfähig.

In der eingangs erwähnten Befragung der Universität Zürich zum Einsatz der Technologie in der Medizin waren 87% gegen eine allgemeine Pflicht für digitale Zwillinge des Körpers.

Mehr
Newsletter Demokratie

Mehr

Unser Demokratie-Newsletter

Wenn Ihr Herz auch für die Demokratie schlägt, dann sind Sie bei uns richtig. Wir berichten über Entwicklungen, Debatten und Herausforderungen – bleiben Sie am Ball.

Mehr Unser Demokratie-Newsletter

Editiert von Mark Livingston

Beliebte Artikel

Meistdiskutiert

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft