Der Brexit und die (Spreng-)Kraft der Trennung
Abstimmungen über Loslösungen sorgen meist für heisse Köpfe. Dabei macht gerade die Volksabstimmung über den Austritt Grossbritanniens aus der Europäischen Union deutlich, worauf es in einer modernen Demokratie ankommt: den rechtlichen Kontext und die politischen Rahmenbedingungen eines solchen Prozesses. Eine Einordnung über den Ärmelkanal auf die Krim bis in den Schweizer Jura. Von Bruno Kaufmann.
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Das ist die Story: Brexit, die Krim, der Jura in der Schweiz – unterschiedliche Prozesse von Austritts-Bestrebungen und Loslösungen – und was Demokratien weltweit daraus lernen können.
Der Entscheid der Britinnen und Briten über den Verbleib in oder Austritt aus der Europäischen Union markiert mindestens in einer Hinsicht eine Premiere: zum ersten Mal seit Inkrafttreten des jüngsten EU-Grundgesetzes im Jahre 2009 nimmt möglicherweise ein Mitgliedsstaat die neue Austrittsklausel dieser Quasi-Verfassung in Anspruch.
Gemäss Artikel 50 des Vertrags von Lissabon «kann jeder Mitgliedsstaat im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften beschließen, aus der Union auszutreten».
Doch selbst bei einem allfälligen Austritt wären die Briten nicht die ersten, die per Volksentscheid der EU den Rücken kehren würden: am 23. Februar 1982 sprachen sich 53% der Grönländerinnen und Grönländer für den Austritt aus der damaligen Europäischen Gemeinschaft (EG) aus. Die frühere dänische Kolonie mit gerade einmal 50’000 Einwohnern berief sich dabei auf die wenige Jahre zuvor erhaltenen neuen Autonomierechte.
Über 60 Volksabstimmungen zu Europa in Europa
Hinzu kommt, dass es seit den frühen 1970er-Jahren immer wieder zu Volksabstimmungen über Europa in Europa gekommen ist: die Franzosen eröffneten den direktdemokratischen Reigen zu Integrationsfragen am 23. März 1972 mit einem klaren «Oui» (68,3%) zur EG-Erweiterung. Seither konnten Bürgerinnen und Bürger in mehr als 60 Fällen an der Urne über einen Beitritt zur EU oder Fragen der Vertiefung der Integration entscheiden. Darunter auch Nicht-EU-Mitgliedsstaaten wie etwa die Schweiz. Seit 1972, als 72,5% der Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger den Beitritt zur Europäischen Freihandelszone EFTA befürworteten, konnten sie sich an der Urne zehn Mal zu europapolitischen Fragen äussern.
Sowohl in der Schweiz wie in 25 weiteren europäischen Staaten kam es dabei in mehr als zwei Dritteln aller Fälle zu EU-positiven Voten. In der kollektiven Erinnerung bleiben jedoch vor allem die negativen Entscheide eher haften. So etwa 1992 in Dänemark zum Maastrichter Vertrag und in der Schweiz zum EWR. Denn oft standen und stehen die Volksentscheide im Widerspruch zu den Empfehlungen von Regierung und Parlament und sorgen auch international für Wirbel.
Besonders heikel sind zudem Volksabstimmungen, in denen die Bürgerinnen und Bürger dazu befragt werden, ob sie aus einer politischen Gemeinschaft austreten wollen – und sich allenfalls gar einer anderen anschliessen wollen. Davon zeugen zahlreiche Fälle aus der jüngeren und jüngsten Geschichte: so sprachen sich nach offiziellem Ergebnis am 16. März 2014 in der zur Ukraine gehörenden Krim-Provinz 96 Prozent der Stimmenden für eine Abspaltung von der Ukraine aus. Zwanzig Tage davor hatten pro-russische Einheiten das Regierungs- und Parlamentsgebäude auf der Krim besetzt und die gewählten Vertreter abgesetzt. Während der OSZE eine Beobachtung der Abstimmung verwehrt wurde, fand die Abstimmung ohne Rücksicht auf den international verbrieften Grundsatz des Stimmgeheimnisses statt.
«Missbrauch des Referenduminstrumentes»
Während die UNO-Generalversammlung das Krim-Referendum für «ungültig» erklärte und die «Venediger Kommission» des Europarates den Beschluss als «Missbrauch des Referenduminstrumentes» bezeichnete, nahm Russland den «Volksentscheid» zum Anlass, die Krimhalbinsel innert zweier Tage zu annektieren.
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Die Geburt des 26. und letzten Schweizer Kantons
Dass es auch ganz anders gehen kann, zeigt ein Beispiel aus der Schweiz. Genauer: der Umgang von Staat und Stimmbürger mit dem langjährigen Konflikt um den verfassungsrechtlichen und territorialen Autonomiestatus des Juras.
Diese französischsprachige und mehrheitlich katholische Region im Nordwesten des Landes war am Wiener Kongress 1815 dem deutschsprachigen und mehrheitlich protestantischen Kanton Bern zugeschlagen worden. Während es in den letzten 200 Jahren vereinzelt zu gewalttätigen Aktionen separatistischer Gruppierungen (wie etwa der jurassischen Befreiungsfront zu Beginn der 1960er-Jahre) gekommen ist, wurde vornehmlich auf rechtsstaatliche und direktdemokratische Lösungsansätze gesetzt: in insgesamt mehr als 50 Volksabstimmungen auf allen Ebenen sind vor allem in den letzten fünfzig Jahren immer wieder neue Lösungen gefunden worden. Den klaren Höhepunkt markierte die nationale Volksabstimmung über die Anerkennung des Juras als 26. Kanton der Schweiz am 24. September 1978.
Abgeschlossen ist dieser Prozess aber auch knapp 40 Jahre nach dieser historischen Volksabstimmung noch nicht: 2017 werden mehrere jurassische Gemeinden (darunter auch der Bezirkshauptort Moutier) an der Urne beschliessen können, ob sie beim Kanton Bern verbleiben oder zum jungen Kanton Jura wechseln wollen.
Frei, fair und geheim?
Ob Krim, Jura, Brexit oder auch Südsudan, Schottland oder Katalonien – vom mehr oder weniger demokratischen Umgang mit Sezessionsbewegungen kann die Welt viel lernen: Erstens kommt es sehr darauf an, ob ein Volksabstimmung in einem stabilen rechtlichen Kontext stattfindet oder nicht. Während etwa das schottische Unabhängigkeitsreferendum vom 18. September 2014 den Segen des britischen Parlamentes hatte, fand die im gleichen Jahr durchgeführte Volksbefragung in Katalonien über die Loslösung von Spanien im Widerspruch zur Zentralregierung in Madrid statt.
Zweitens spielt die für eine öffentliche Debatte im Vorfeld des Volksentscheides eingeräumte Zeit eine wichtige Rolle, was die erwähnten Fälle Krim und Jura deutlich machen.
Und schliesslich drittens hängt die (direkt)demokratische Nachhaltigkeit eines Sezessionsreferendums auch von der administrativen Sorgfalt ab. Diese sorgt u.a. auch dafür, dass neben dem Stimmgeheimnis auch die Freiheit und Fairness des Volksentscheides gesichert ist.
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