«Wenn die Schweizer das können, können wir es auch!»
Manuela Carmena ist seit vergangenem Juni Bürgermeisterin von Madrid. Die ehemalige Richterin und Rechtsanwältin - polemisch, populär und charismatisch -, inspiriert sich für die Politik in der Hauptstadt Spaniens an der direkten Demokratie und sucht nach neuen Möglichkeiten der politischen Mitbestimmung für die Bürger.
Seit September verfügt die Hauptstadt über eine Plattform für die Mitsprache der Bürger sowie für Umfragen, die für die Behörden verbindlich sind. Das macht Madrid zum bisher wichtigsten Pflaster für Erfahrungen in Sachen direkter Demokratie in Spanien.
swissinfo.ch: Wie setzen Sie die Mitbestimmung der Bürger vom Rathaus in Madrid aus in die Praxis um?
Manuela Carmena: Wir haben neu eine Webseite. Darauf können die Bürger Vorschläge aller Art einreichen, sofern diese gesetzmässig sind und die Menschenrechte achten. Werden die Vorschläge von 2% der Stimmberechtigten unterstützt, das sind 55’000 Bürger, so wird über die Möglichkeit eines Referendums und die Umsetzung der entsprechenden Massnahmen entschieden.
swissinfo.ch: Diente Ihnen die direkte Demokratie der Schweiz als Modell oder liessen sie sich eher von der Bewegung M15 inspirieren?
M.C.: Vom Alter her gehöre ich nicht zur Generation der M15 und war damals auch nicht in Spanien. Doch ich glaube, dass die M15 eine neue Art der Politik repräsentiert. Sie wird von einigen sehr jungen Leuten angeführt, die nun in meinem Team arbeiten. In Madrid trafen sich laut einem Sprichwort der Hunger und die Lust zum Essen. So bin ich auf diese jungen Leute getroffen, die mich baten, mit ihnen zusammen zu arbeiten und für das Amt der Gemeindepräsidentin der Liste Ahora Madrid (Madrid Jetzt) zu kandidieren.
Manuela Carmena
Die spanische Richterin und Anwältin wurde 1944 in Madrid geboren, studierte an der Universidad Complutense Rechtswissenschaften und kandidierte 1977 für die allgemeinen Wahlen für die Kommunistische Partei. Sie spezialierte sich anschliessend auf die Rechte der Inhaftierten.
1986 wurde sie mit dem nationalen Preis für Menschenrechte ausgezeichnet. Von 2003 bis 2009 war sie Präsidentin und Berichterstatterin der Arbeitsgruppe für willkürliche Verhaftungen der UNO.
Nach ihrer Pensionierung 2010 rief sie die Initiative Yayos Emprendedores ins Leben. Diese verkauft Spielsachen und von Häftlingen hergestellte Kinderkleider. Der Erlös kommt den Häftlingen und Sozialprojekten zu gut.
Bei den Gemeindewahlen vom vergangenen Mai kandidierte sie für Ahora Madrid und kam auf Platz 2. Dank der Unterstützung des Sozialisten Manuel Carmona wurde sie zur Bürgermeisterin ernannt.
Ahora Madrid kam dank eines Abkommens mit Podemos (Wir können) und der Plattform Ganemos Madrid (Gewinnen wir Madrid) als «Kandidatur der Bürger für die Volkseinheit» zustande.
Ich bin mir seit längerer Zeit bewusst, dass die repräsentative Demokratie an ihre Grenzen gestossen ist. In der Tat hat mich seit jeher die Arbeit Simone Weils (französische Politikerin und Ex-Ministerin) interessiert. Als ich ihre kritischen Äusserungen über traditionelle politische Parteien entdeckte, sah ich mich in meiner Überzeugung bestätigt.
swissinfo.ch: Welche Rolle spielt die Schweiz in diesem Zusammenhang?
M.C.: Seit 2003, als ich zur Sonderberichterstatterin der UNO für willkürliche Verhaftungen ernannt wurde, kam ich häufig nach Genf. Jedes Mal, wenn ich Abstimmungsplakate sah, dachte ich: «Wenn die Schweizer das organisieren können, müssen wir das auch schaffen!»
swissinfo.ch: Ihr Mitarbeiter Pablo Soto betitelte die Schweiz in einem Interview als «Land der zufriedenen Minderheiten». Hoffen sie, in Madrid etwas Ähnliches zu erreichen?
M.C.: Pablo ist der für Mitbestimmung zuständige Gemeinderat. Ja, das ist seine und übrigens auch meine Überzeugung. Wie bereits erwähnt, mich haben die Plakate für kommende Abstimmungen und Wahlen fasziniert. Doch ich möchte an etwas sehr Wichtiges erinnern, was UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon gesagt hat: «Demokratie kann nicht nur repräsentativ sein». Deshalb müssen wir nach anderen demokratischen Strukturen zu suchen.
Ich finde eine Demokratie, die direkte Vorschläge und Entscheidungen der Bürger zulässt, sehr interessant. Wir müssen über andere Formen repräsentativer Demokratie nachdenken, die nichts mit den politischen Parteien zu tun haben. Sie sollten geschmeidiger und flexibler sein und v.a. eng mit den konkreten und den Bürgern nahe stehenden Entscheidungen verbunden sein.
Konferenz über Migranten und Städte, 26. – 27.10. 2015
In ihrem Referat an der von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) in Genf organisierten Konferenz setzte sich Carmena für ein für Migranten offenes Madrid ein und erinnerte daran, dass «Madrid eine gastfreundliche Stadt ist, wo mehr als 600’000 Menschen leben, die nicht in Spanien geboren sind.»
Ebenso setzte sie sich für die Schliessung der Internierungszentren für Ausländer (CIES) ein, denn es dürfe nicht sein, «dass eine Person nur deshalb verhaftet wird, weil sie die Einwanderungsgesetze verletzt hat.»
Gegenüber swissinfo.ch erklärte die Stadtpräsidentin, dass Madrid alles tue, um syrische Flüchtlinge aufzunehmen und ihnen Unterkünften zu bieten. Doch diese wollten so schnell wie möglich weiterziehen und nicht in Spanien bleiben.Das Negative an den politischen Parteien ist, dass sie verpflichtet sind, zu allem Stellung zu nehmen und über alles zu entscheiden. Ich glaube, es wäre gut, diese uns einengenden Schemen zu überwinden.
swissinfo.ch: Was passiert, wenn das Volk «schwierige» Entscheide fällt, wie z.B. in der Schweiz das Verbot zum Bau von Minaretten?
M.C.: Das muss man wohl akzeptieren. Wir müssen damit rechnen, dass die Bürger sich täuschen können. Doch Vorsicht, wie bereits gesagt: Wir müssen uns immer im Klaren sein, dass kein Volksentscheid die notwendige Achtung der Menschenrechte übergehen kann.
Den konkreten Fall der Minarette kann ich nicht begrüssen. Doch solange ein Volksentscheid nicht Grundrechte verletzt, muss er respektiert werden. Die Gesellschaft kann über irgendein Thema entscheiden, solange die Menschenrechte und der institutionelle und rechtliche Rahmen respektiert werden.
swissinfo.ch: Kann die direkte Demokratie der Schweiz «exportiert» werden?
M.C.: Ich finde es keine gute Idee, etwas als verschnürtes Paket zu exportieren. Positiv ist, Einflüsse anzunehmen. Ich bin keine Befürworterin der Idee, Erfahrungen als ein Ganzes von einem Land in ein anderes zu verpflanzen. Ich glaube, dass wir Menschen uns sehr ähneln, aber die spanische Gesellschaft hat mit der Schweiz sehr wenig gemeinsam (lacht). Letztere verfügt über sehr interessante politische Instrumente und wir sind für einen Austausch offen.
swissinfo.ch: Europa rutscht politisch nach rechts. Vor kurzem feierte die nationalistische Rechte der Schweiz einen historischen Sieg. In Frankreich wächst der Front National. Wie analysieren Sie dieses Phänomen?
M.C.: Dies trifft zu. Doch in Madrid haben wir diese Erscheinungen der Verteidigung des Nationalismus nicht. Das liegt uns fremd und hat vielleicht damit zu tun, dass die Grosszahl der Zuwanderer aus Lateinamerika stammt. Die Spanier fühlen sich ihnen sehr verbunden. Wir sind verbrüderte Völker. In Madrid gibt es keine bedeutende rassistische Bewegung und ich glaube, dass keine Partei mit einer solchen Ideologie in unserer Stadt Erfolg haben könnte.
swissinfo.ch: Soll Spanien die Möglichkeit vermehrter demokratischer Kontrolle und Mitbestimmung mittels Referenden wie in der Schweiz in die Verfassung aufnehmen?
M.C.: Keine schlechte Idee. Wir müssten das Thema jedoch genauer umschreiben und analysieren, um es unserer Wirklichkeit anzupassen. Auch die in Spanien sehr beschränkte Gesetzesinitiative würde ich positiv finden. Es ist äusserst schwierig, dass ein Gesetzesvorschlag als Gesetzesinitiative ins Parlament gelangt. Deshalb unterstütze ich die Idee.
swissinfo.ch: Welches Erbe möchten Sie in Madrid hinterlassen?
M.C.: Sicher ein freieres und kreativeres, v.a. aber ein viel gerechteres Madrid mit mehr Gleichheit und sozialen Verbesserungen.
(Übertragung aus dem Spanischen: Regula Ochsenbein)
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