«Direkte Demokratie ist keine Religion»
Die Schweiz sei eine Muster-Demokratie, sagt der Satiriker und Autor Vincent Kucholl. Aber es brauche Schutzmechanismen, um das System zu verbessern und künftig "Unfälle" wie das Ja zur Initiative für ein Minarett-Verbot zu verhindern. Im Gespräch mit swissinfo.ch zeigt der Westschweizer, dass er auch eine ganz ernsthafte Seite hat.
Bekannt geworden ist Kucholl durch die erfolgreiche Satire-Sendung «120 secondes»Externer Link, die er von 2011 bis 2014 mit Partner Vincent Veillon jeden Morgen am Westschweizer Radio bestritt. Dazu interviewte das Duo fiktive Personen zu aktuellen politischen Themen.
Jetzt feiert Kucholl auch als Autor Erfolge: Sein Buch mit dem mit ausgesucht ernsten Titel «Institutions Politiques Suisses»Externer Link («Politische Institutionen der Schweiz», kürzlich unter dem Titel «Swiss Democracy in a Nutshell» auch auf Englisch erschienen, wurde sofort zum Renner. Es ist wiederum eine Gemeinschaftsproduktion, diesmal mit dem Comic-Zeichner Mix & Remix, auch er aus der Westschweiz.
Mit einer Bühnenversion von «120 secondes» füllte das Duo Kucholl/Veillon zuletzt die Theatersäle von Yverdon über Vallorbe bis nach Paris. Seit Januar 2015 ist das Duo mit dem frechen Mundwerk wieder in den Medien, diesmal mit dem Format «26 minutes», einer satirischen Nachrichtensendung am Westschweizer Fernsehen.
swissinfo.ch: Ihr Buch über die Schweizer Demokratie verkaufte sich bisher über 250’000 Mal. Vor allem bei Schülern und Einbürgerungswilligen ist es populär. Jetzt gibt es auch eine englische Ausgabe. Ist die Schweizer Demokratie wirklich so spannend?
Vincent Kucholl: Auf den ersten Blick scheint das Thema nicht wirklich sexy. Aber wir sehen, und die Statistik untermauert es, dass es die Menschen interessiert. Wenn du einen Effort unternimmst, um die Dinge zu vereinfachen und die Essenz zu erklären, merkst du plötzlich, dass die Leute interessiert sind und viele Fragen haben.
Vincent Kucholl
Der 40-Jährige Westschweizer entdeckte in der Rekrutenschule, dass er sein komödiantisches Talent zum Beruf machen könnte.
In der Ausbildung in der Schweizer Armee entwickelte er auch das Talent zum Imitieren der verschiedensten Dialekte und Akzente der Schweiz.
Zum 11. September 2001, dem Tag der Anschläge auf das World Trade Center in New York, notiert er: «Beginn der Theaterausbildung, ich merke, dass die Welt auseinanderfällt.» («Début de mon école de théâtre et prise de conscience que le monde part en couilles»).
2006 erster Auftritt am Westschweizer Radio.
2011 bis 2014: Satirische Morgensendung «120 secondes» mit Vincent Veillon am Westschweizer Radio und im Internet.
Ab 2015: Satirische Nachrichtensendung mit Vincent Veillon am Westschweizer Fernsehen.
swissinfo.ch: Haben Sie die direkte Demokratie im Blut, wie dies der letztjährige Bundespräsident Didier Burkhalter von vielen Schweizern behauptet?
V.K: Nein (lacht). Das politische System der Schweiz ist ein Cocktail aus vielen verschiedenen Zutaten, und direkte Demokratie ist nur ein Teil davon.
Sie zielt auf Konsens ab, das Parlament sucht den Kompromiss, um Referenden zu vermeiden. Diese wirken wie Sand im Getriebe und bremsen das System. Föderalismus ist auch sehr wichtig, wie Multikulturalität. Es ist ein Mosaik, dessen Stabilität zeigt, dass das System trotz aller Unterschiede gut funktioniert.
Das politische System der Schweiz hat Modellcharakter. Wäre es bekannter, könnte es eine Inspiration für andere Länder sein. Das wäre toll, aber ich will nicht anfangen zu predigen.
swissinfo.ch: Die Schweizer Demokratie – ein Exportmodell?
V.K.: Ich bin nicht sicher, weil wir eine doch recht spezifische politische Kultur haben. Es gibt eine Art politischer Reife. Viele Volksinitiativen wurden abgelehnt, etwa jene über einen Mindestlohn oder eine zusätzliche Ferienwoche. Ich bin sicher, dass sie in anderen Ländern angenommen worden wären. Es ist eine besondere politische Kultur, wenn die Menschen gegen ihre eigenen Interessen stimmen. Für das Ausland ist das ziemlich sonderbar. Die Leute befürchten, dass die direkte Demokratie zu einer Waffe für Populisten werden kann. Dies war ein paar Mal der Fall, ist heute aber eher selten.
swissinfo.ch: Hat es wirklich Modellcharakter, wenn es bis 500’000 Franken kostet, eine Volksinitiative an die Urne zu bringen?
V.K.: Der Einwand ist berechtigt. Aber anderswo ist es immer schlimmer, etwa in den USA. Für Schweizer Verhältnisse mag es schockieren, wie viel Geld teils in eine einzelne Kampagnen fliesst, etwa in jene gegen die Einführung einer Einheitskrankenkasse. Aber da waren Akteure involviert, die ein grosses Interesse an der Beibehaltung des aktuellen Systems hatten. Sie investierten Millionen in die Nein-Kampagne, weil für sie sehr viel auf dem Spiel stand.
In dieser Hinsicht ist das System leicht pervers. Die Monetarisierung der Demokratie ist kein sehr positiver Punkt. Ich bin für Transparenz, was die Finanzierung und die Konten der politischen Parteien angeht. Wir müssen sicherstellen, dass die Demokratie nicht käuflich wird, denn dann wäre sie sinnlos.
swissinfo.ch: Die Stimm- und Wahlbeteiligung bei den jungen Menschen ist tief. Zu viele Abstimmungen, zu kompliziert, klagen sie. Was könnte hier verbessert werden?
V.K.: Manchmal ist der Inhalt tatsächlich technisch, aber ich glaube nicht, dass es zu viele Abstimmungen gibt. Zu viel Demokratie kann nicht der Tod der Demokratie sein.
Politische Bildung spielt eine zentrale Rolle. Die Schulzimmer sollten Orte sein, wo die jungen Menschen lernen, über Kultur und Politik zu diskutieren. Sie müssen mehr Interesse an öffentlichen Angelegenheiten entwickeln. Bevor sie verstehen, wie die Dinge im Detail funktionieren, müssen sie verstehen, dass wir alle eine Rolle darin spielen, und dass dies spannend ist. Dann werden sie selber zu Akteuren in diesem System.
swissinfo.ch: Nach dem Ja der Schweizer Stimmbürger zur Einwanderungs-Begrenzung vom 9. Februar 2014 sagte der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck, dass direkte Demokratie eine «echte Gefahr» in komplexen Fragen sein könne. Denn für Bürger könne es manchmal schwierig sein, die Konsequenzen eines Votums zu verstehen. Verhältnis zu Europa, Einwanderung, Waffen, Ausschaffung Straffälliger – können wir über alles abstimmen?
V.K.: Nein, wir können nicht über alles stimmen. Wir benötigen bestimmte Sicherheits- und Schutzmechanismen. Das Votum vom 9. Februar zeigte, dass ein Mangel an Informationen herrschte. Dieser betraf Fragen der Forschung, Mobilität und der Beziehungen mit der EU mit den bilateralen Verträgen.
Immigration ist nicht kompliziert, man kann dazu schlicht «Ja» oder «Nein» sagen. Aber die Folgen dieses Votums sind äusserst komplex. Einige mögliche Folgen, insbesondere auf gesetzlicher Ebene, wurden den Stimmbürgern nicht genügend erklärt. Ich bin mir sicher, dass die Abstimmung heute anders herauskommen würde.
swissinfo.ch: Braucht die Schweiz ein Verfassungsgericht, um die Konformität gewisser Initiativen vorgängig zu prüfen?
V.K.: Ja, wir müssen Initiativen genauer beurteilen. Das passiert ungenügend. Das Votum vom 9. Februar war ziemlich schlimm, ein eigentlicher Unfall. Wie das Minarett-Verbot, das auch Auswirkungen für die Schweiz auf internationaler Ebene hatte.
Direkte Demokratie sollte nicht über jedes Thema befinden. Schweizer Recht darf nicht vor internationalem Recht kommen, wie das die Schweizerische Volkspartei (SVP) will. Das Volk hat nicht immer Recht, es kann vielmehr auch Fehler machen, und das ist am 9. Februar passiert.
Das stossende an der Schweiz ist, dass fast jeder Politiker sagt, «das Schweizer Volk hat Recht». Damit bin ich nicht einverstanden. Direkte Demokratie ist keine Religion, der Stimmbürger kein Gott.
swissinfo.ch: Die ehemalige Schweizer Bundeskanzlerin Annemarie Huber-Hotz schlägt vor, dass die grossen politischen Parteien keine Volksinitiativen mehr lancieren dürften, weil sie dieses Volksrecht übermässig einsetzen. Wie denken Sie darüber?
V.K.: Aus philosophischer Sicht ist es interessant, denn Volksinitiativen wurden zu Beginn des Jahrhunderts als politisches Gegengewicht zu den etablierten Akteuren eingeführt. Heute lanciert die SVP, die grösste Partei, die meisten Initiativen. Ich glaube nicht, dass diese Nutzung im Sinne der Schweizer Gründerväter wäre, welche dieses Instrument verankert haben. Aber der Vorschlag von Annemarie Huber-Hotz ist provokativ, er wird nie eine reelle Chance haben.
swissinfo.ch: Sehen Sie weitere Verbesserungsmöglichkeiten für die Demokratie in der Schweiz?
VK: Die durchschnittlich Wahlbeteiligung von 40% ist nicht schlecht. Aber es sind 40% der Schweizerinnen und Schweizer und nicht 40% der Gesamtbevölkerung.
Wir dürfen nicht vergessen, dass viele Leute, die hier leben und die hier geboren wurden, nicht abstimmen dürfen. Diesen Punkt könnte man auch reformieren, so dass die Menschen nicht nur in der Schweiz leben, sondern das Land und dessen Entwicklung auch aktiv mitgestalten können. Viele Menschen sind vom System ausgeschlossen. Es gibt hier immerhin rund zwei Millionen Ausländer.
Klar, dass das Zeit braucht. Aber ich würde es gerne erleben. Die Schweizer sind nicht die einzigen in diesem Land mit einem Schweizer Pass.
(Übertragung aus dem Englischen: Renat Kuenzi)
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