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Die Schweiz als Testfall für den europäischen Populismus

In der Schweiz gedeiht der Populismus – aber kontrolliert

SVP Maskottchen
Das lächelnde Gesicht des Populismus? Ein Maskottchen der Schweizerischen Volkspartei, Februar 2019. © Keystone / Peter Klaunzer

Was bedeutet der wachsende Populismus für die Zukunft der Demokratie? Zumindest in der Schweiz scheinen populistische und demokratische Ideale Hand in Hand zu gedeihen.

Die Schweiz ist aufgrund vieler Indikatoren, die auf den Begriff angewendet werden, eines der populistischen Länder Europas. Die rechtskonservative, gegen Migration eingestellte Schweizerische Volkspartei (SVP) ist die grösste politische Partei des Landes, die anti-elitäre Stimmung ist stark, und das politische System der direkten Demokratie kann zu umstrittenen Ausbrüchen von Volkszorn führen.

Die Schweiz ist aber auch – bei fast allen Indikatoren – ein Modell für politische Stabilität, wirtschaftlichen Wohlstand, Lebensqualität, Multi-Kulturalität (25% der Wohnbevölkerung sind Ausländer) und allgemeine demokratische Gesundheit. Ist dies ein Paradox?

Schaut man von Aussen ins Land, mag es so aussehen. Aber die besondere Marke des «Alpen-Populismus» in der Schweiz fusst auf verschiedenen Aspekten, die diesen Populismus von anderen Versionen des Phänomens unterscheiden, das sich in ganz Europa ausbreitet.

Höhen und Tiefpunkte

Der erste Aspekt ist der historische Zeitpunkt. Claude Longchamp, Politikwissenschafter des Forschungsinstituts gfs.bernExterner Link (der als Kolumnist regelmässig Beiträge für swissinfo.ch verfasst), geht davon aus, dass die Schweiz sich zur Zeit in der Talsohle der populistischen Welle befindet, die in Ländern wie Frankreich, Italien, Österreich, Ungarn und Polen gerade ihren Höhepunkt erreicht.

«Wir haben diese Diskussionen bereits gehabt», sagt Longchamp. «Anders als in anderen Ländern, wo seit der Wahl von Donald Trump 2016 ein Wachstum einer neuen Art von Populismus zu beobachten ist, der die politische Mitte erobern will, nimmt der Populismus hier aktuell nicht zu.»

In der Schweiz hatte der Populismus laut Longchamp um 2007 einen Höhepunkt erlebt, als Christoph Blocher, der Doyen der Volkspartei, Mitglied der Regierung war und Bewegungen schürte, die 2010 zu einer Abstimmung über die Ausweisung krimineller Ausländer führten. Eine weitere Welle hatte ihren Höhepunkt in den Jahren 2013-2015, als die Finanzkrise in den umliegenden Ländern der Eurozone dazu führte, dass die Stimmberechtigten den Blick mehr nach innen richteten und für die Eindämmung der Einwanderung aus der EU stimmten.   

Doch seither stagniere der Einfluss der SVP und ihrer populistischen Ansichten, sagt der Politikwissenschafter. Lokale Wahlergebnisse und mehrere Abstimmungsniederlagen brachten die Rechtskonservativen in die Defensive. Und bisherige Prognosen für die eidgenössischen Parlamentswahlen im Oktober sehen Gewinne für die Grünen voraus, nicht aber populistische Gewinne, wie sie jüngst bei den Europawahlen erzielt wurden.

Gegenbewegungen

Wie kommt es zu dieser zeitlichen Diskrepanz zwischen der Schweiz und dem Rest Europas? Longchamp sagt, ein Teil sei einfach zyklisch bedingt; Höhen und Tiefen abweichender Meinungen seien ein fester Bestandteil von Demokratien, in denen die Stabilität von der Fähigkeit des vorherrschenden Systems abhänge, genügend Menschen zufrieden zu stellen, so dass diese sich nicht extremen Alternativen zuwendeten.

Unter diesem Blickwinkel betrachtet, erlebte die Schweiz 2007 ihre populistischen Wachstumsschmerzen, während Europa gerade kopfüber in seine heftige Finanzkrise stürzte. Ein Jahrzehnt später sahen sich die EU-Demokratien mit den politischen Früchten der Stagnation und der mageren Aussichten konfrontiert, während es der Schweizer Wirtschaft gut ging.

Aber das ist nicht alles. In jüngerer Zeit hat das Wachstum einer unabhängigen progressiven Bewegung auch dazu beigetragen, ein Gegen-Narrativ zur extrem effektiven Werbestrategie der SVP zu bilden.

Operation Libero zum Beispiel, der die britische Tageszeitung The GuardianExterner Link jüngst zuschrieb, dass sie den «Populismus schlage»: Die Bewegung ist eine urbane, liberale Gruppe, die sich in den vergangenen vier Jahren mit Erfolg für den Kampf gegen verschiedene Initiativen aus dem Kreis der politischen Rechten eingesetzt hat.

Operation Libero hat all ihre bisherigen Kämpfe gewonnen – inklusive den gegen einen weiteren Vorstoss zur Ausweisung krimineller Ausländer – mit einer Strategie von energiereichen, farbenfrohen Kampagnen, die das Narrativ verschieben. Jetzt unterstützt die Bewegung ausgewählte Kandidatinnen und Kandidaten für die Parlamentswahlen im Oktober.

Auch wenn das Lob des Guardian übertrieben ausgefallen sein mag, hat die liberale Ideologie von Operation Libero, kombiniert mit ihrem lebhaften, auf seine eigene Weise populistischen Kommunikationsstil, sicherlich dazu beigetragen, «das Narrativ» etwas zu verändern, wie es die Zeitung ausdrückte.

Derweil könnten auch das Engagement der Jugend, Sorgen um den Klimawandel (was führende Vertreter der SVP als «Modeerscheinung» bezeichnen) und eine Verschiebung der politischen Ausrichtung in den urbanen Zentren der Schweiz (im Gegensatz zu den eher konservativen ländlichen Regionen) dazu beitragen, den konservativen Populisten den Wind aus den Segeln zu nehmen.

operation libero
Eine farbenfrohe Kampagne von Operation Libero: Hier zur Förderung des Eherechts für alle. Keystone / Peter Schneider

Rolle der direkten Demokratie

Dies bedeutet natürlich nicht, dass die Schweiz vom populistischen Trend nicht länger betroffen ist. Laut einer Forschungsarbeit von 2016Externer Link gibt es hier nach wie vor «günstige Bedingungen für wachsenden Populismus» – darunter die traditionell konservative und isolationistische Sozialgeografie sowie ein stark konzentriertes Mediensystem mit immer weniger Verlagshäusern.

Und dann ist da noch das System der direkten Demokratie: Ein Instrument, das Populisten, die damit ihre Agenda voranbringen wollen, heiss lieben (und das von Matteo Salvini in Italien und Marine Le Pen in Frankreich oft gepriesen wird). Ein System, das angeblich den Eliten die Macht entzieht, um diese direkt in die Hände des ausschlaggebenden «Volks» zu geben.

Möglicherweise ist es aber genau dieses Instrument, mit dem der Erfolg von Populisten langfristig untergraben wird.

In einem System, in dem es möglich ist, vom Parlament verabschiedete Gesetze in Frage zu stellen und dem Volk zur Abstimmung vorzulegen (dazu müssen 50’000 Unterschriften gesammelt werden) oder die Bundesverfassung zu ändern (dazu braucht es 100’000 Unterschriften), «steigen politische Themen rascher und deutlicher an die Oberfläche und müssen gelöst werden», erklärt Longchamp.

Dies trage dazu bei, dass schwelende Ängste oder Unbehagen nicht zu lange unterdrückt würden. Zudem wecke die Möglichkeit, häufiger abstimmen zu können (auch wenn die Stimmbeteiligung niedrig ist) den Eindruck, eine Stimme zu haben, was populistische Forderungen sowohl schüre als auch mässige.

Laurent Bernhard von der Universität Lausanne erklärt, dies komme auch innerhalb des Schweizer Regierungssystems zum Tragen, das allen grossen politischen Parteien einen Sitz in der auf Konsens verpflichteten Regierung (dem siebenköpfigen Bundesrat) garantiert. Die SVP sei in dieses System «kooptiert» und werde dadurch moderater und pragmatischer.

Die Volkspartei ist damit in der Schweiz ein fester Bestandteil des politischen Mobiliars. Sie wird nicht durch eine Art von «Cordon sanitaire» ausgegrenzt, der nationalistische Gruppen in Ländern wie Frankreich umgibt, wo es jahrelang tabu war, über den Front National als legitimen politischen Akteur zu sprechen.

Und weil das Schweizer System auf einem solchen Modell des Regierens im Konsens fusst, ist es letztlich auch nicht möglich, dass sich irgendeine einzelne Partei – ob nun populistisch oder nicht – in eine Situation hineinmanövrieren könnte, in der sie alle Macht in den Händen hätte, um allein tiefgreifende Veränderungen durchzusetzen.

Und so ist es unwahrscheinlich, dass es bei der Rechten zu einer Verschiebung hin zu einem autoritären Illiberalismus kommt, wie man es (zum Beispiel) in Ungarn sieht; und auf der linken Seite rudert man mit populistischen Forderungen nach grundlegenden wirtschaftlichen Umwälzungen und für ein Wiederaufleben des Klassenkampfs ebenfalls gegen den Strom.

Wie Tamara Funiciello, die zurücktretende Präsidentin der Jungsozialisten und Jungsozialistinnen (JUSO) und selbsternannte Populistin, sagte – «in der Schweiz wird es nie eine Revolution geben».

Tamara Funiciello
Revolution in der Schweiz? Tamara Funiciello, die zurücktretende JUSO-Präsidentin, glaubt nicht daran. © Keystone / Gian Ehrenzeller

Mehr Lärm als Substanz?

In der Tat betrachtet Funiciello den Populismus in einem solch eingebundenen System eher als eine Übung in Kommunikation: Als Weg, die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen und eine vereinfachte Botschaft zu verbreiten, die in ihrer Substanz populistisch sein mag oder auch nicht.

Sie erklärt, wie die JUSO im Wesentlichen den Kommunikationsstil der SVP nachahmte, nachdem die Jungpartei gesehen hatte, wie wirksam die SVP damit im vergangenen Jahrzehnt gewesen war. Auch die Leute von Operation Libero sind versiert in der Kommunikation, wenn es darum geht, in den Medien Schlagzeilen zu machen; und auch die Grünen, die aktuell in der Gunst der Stimmberechtigten im Trend liegen, rutschen gemäss einer akademischen StudieExterner Link in die Nähe eines populistischen Diskurses.

Longchamp findet, es sei wichtig, solch «rhetorischen Populismus» zu überwachen, den er als Verdummung des Diskurses, als negative und angriffsorientierte Kampagnenarbeit und als Mittel dazu bezeichnet, Medienaufmerksamkeit um jeden Preis zu erhalten. Gleichzeitig verweist er darauf, es sei wichtig, den «rhetorischen» vom mehr «ideologischen Populismus» zu unterscheiden, der zu gefährlicher Ausgrenzungspolitik führen könne.

Longchamp ist, was die SVP angeht – die dem Ausdruck Populismus selbst ambivalent gegenübersteht –, weniger bereit als andere Forscher, diese als durch und durch populistisch zu bezeichnen. Die Partei weise viele populistische Facetten auf, erklärt er, aber weniger als gewisse Varianten im übrigen Europa, die teilweise von Parteien mit faschistischer Geschichte abstammten. «Die Volkspartei war nie eine rechtsextreme Gruppierung», sagt er.

(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)

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